Nebersicht der Ereignisse des Jahres 1872. 613
der Armee, Anschaffung von Kriegsmaterial und Herstellung neuer Befesti-
gungen zu bewilligen, ja ihm sogar mehr zu bewilligen, als er gefordert
hatte, daß endlich die Annäherung an Deutschland immer entschiedener und
offener hervortrat und die Frage einer förmlichen Allianz mit demselben
durchaus nicht mehr ferne lag. Der König neigte zwar noch immer zu
Frankreich, aber das hielt ihn doch nicht ab, das kronprinzliche Paar einen
sehr demonstrativen Besuch in Berlin machen zu lassen; die sog. Consorterie
hielt zwar noch immer fest an Frankreich, aber ihr Einfluß war augen-
blicklich ein sehr geringer und die Regierung beschränkte sich darauf, Frank-
reich zu beschwichtigen und mit ihm die bestmöglichen Beziehungen zu pfle-
gen, um keinen Argwohn aufkommen zu lassen. Das hielt sie aber doch
nicht ab, dem immer dringenderen Verlangen der öffentlichen Meinung nach-
zugeben und endlich die Klosterfrage für die römische Provinz in Angriff
zu nehmen. Am 20. Nov. legte sie dem Parlamente einen diesfälligen
Gesetzesentwurf vor: die Klöster in Rom und in der Provinz sollten sammt
und sonders wie im ganzen übrigen Italien aufgehoben und nur die sog.
Generalate erhalten werden. Sie hatte sich überzeugt, daß sie das thun
könne, ohne einen förmlichen Einspruch von Seite irgend einer der Mächte
befürchten zu müssen. Eben um das zu vermeiden, war der Entwurf darauf
berechnet, die Interessen des Auslandes und diejenigen der römischen Curie
möglichst zu schonen. In Italien mißfiel diese Rücksichtnahme freilich viel-
fach und es war zweifelhaft, ob das Parlament sich dazu herbeilasse. Bis
zu Ende des Jahres kam es noch nicht zur Entscheidung. Seither ist indeß
das Gesetz, wenn auch in etwas verschärfter Form von beiden Kammern
angenommen worden. Wirklich erhob keine Macht dagegen Einspruch, selbst
Frankreich begnügte sich, für die Zukunft seine Reserven zu machen, obgleich
dort inzwischen die ultramontane Partei zum Regiment gekommen ist.
In ganz entgegengesetzter Weise zog im J. 1872 England die Augen #ngland.
der Welt auf sich durch seine Friedensliebe. Die seit dem letzten nord-
amerikanischen Bürgerkriege zwischen ihm und der nordamerikanischen Union
obwaltende Spannung, die am Ende leicht zu einem Kriege hätte führen
können, wurde schiedsrichterlich in friedlicher Weise gelöst. Die sog. Ala-
bamafrage erledigte das in Genf zusammentretende Schiedsgericht, die sog.
S. Juanfrage gleichfalls als Schiedsrichter der deutsche Kaiser. Beide
Sprüche fielen zu Gunsten der Union aus. England tröstete sich damit,
daß seine Ehre dadurch in keiner Weise beeinträchtigt sei, und daß die kleine
Schlappe, die es erlitten, gar nicht in Betracht kommen könne gegenüber den