Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Slieder. 69 
weil wir uns der merkwürdigen Beobachtung nicht verschließen können, daß 
die Geistlichkeit in allen Ländern eine nationale ist, und nur die in Deutsch- 
land eine Ausnahme davon macht. Die polnische Geisllichkeit schließt sich den 
polnischen Bestrebungen an, die italienische der nationalen Bewegung in Italien. 
Ja, selbst in der unmittelbaren Umgebung von Rom sehen wir nicht, daß 
der italienischen Regierung von Seiten der italienischen Geistlichkeit Schwierig- 
keiten bereitet werden, im Gegentheil, man hat von Anfang an gesehen, daß 
in gewissen Fragen ein Theil der Geistlichkeit bis hoch hinauf den nationalen 
Bestrebungen des Landes günstig war. Wir haben ferner gesehen, daß in 
Frankreich der Franzose stets höher steht in der Schätung der Geistlichkeit, 
als der Geistliche. Ein eklatantes Beispiel dafür bildete während der Friedens- 
verhandlungen, daß, als Se. Heil. der Papst den Bischöfen ausdrücklich durch 
ein beauftragtes Organ die Weisung zugehen ließ, für den Frieden thätig 
zu sein, er, so monarchisch auch die Kirche organisirt ist, damit kein Gehör 
fand. Bei den französischen Geistlichen ging eben die französische Politik 
weiter. Aehnlich ist es in Spanien. Nur ganz allein in Deutschland tritt 
uns die eigenthümliche Erscheinung entgegen, daß die katholische Geistlichkeit 
einen entschieden internationalen Charakter trägt. Die katholische Kirche in 
Deutschland hat auch in der neueren Entwicklung deutlich gezeigt, daß sie 
darin nicht auf der Basis des Clerus anderer Nationen steht, sondern daß ihr 
öfters die Kirche näher am Herzen liegt, als die Entwicklung des Deutschen 
Neichs, ohne daß ich damit sagen will, daß diese Entwicklung ihr völlig fern 
liegt. (Rufe im Centrum: Beweisel) Sie halten das für Beleidigungen, 
meine Herren? (Dr. Windthorst: Nein, Beweise!) Beweise! Ach, ich bitte 
Sic, m. H., greifen Sie doch in ihren eigenen Busen. (Stürmische Heiter- 
leit.) Der Hr. Vorredner hat mich ferner erinnert an Reden, die ich vor 
23 Jahren, im Jahr 1849, gehalten habe. Ich könnte diese Bezugnahme 
einfach mit der Bemerkung abfertigen, daß man in 23 Jahren, namentlich 
wenn es die besten Mannesjahre sind, etwas zuzulernen pflegt, und daß ich 
wenigstens nicht unfehlbar bin. (Heiterkeit.) Aber ich will noch weiter gehen 
und sagen: was in meinen damaligen Aeußerung war an lebendigem Be- 
kenntniß, an Bekenntniß zum lebendigen christlichen Glauben, das spreche ich 
auch heute noch ganz offen aus, und scheue dieses Bekenntniß weder öffentlich 
noch in meinem Haus an irgendeinem Tage. (Bravol! rechts.) Aber dieser 
mein lebendiger, evangelischer, christlicher Glaube legt mir die Verpflichtung 
auf, für das Land wo ich geboren bin, zu dessen Diensten Gott mich geschaffen 
hatt, und in dem mir ein hohes Amt übertragen ist, nach allen Seiten hin 
das Necht zu wahren. Und wenn dieser Staat von Republikanern und auf 
den Barrikaden angegriffen war, habe ich es für meine Pflicht gehalten, auf 
der Bresche zu stehen. Sie werden mich, wenn dieser Staat von einer Seite 
angegriffen wird, von der wir gehofft haben und noch wünschen, daß sie dazu 
zurückkehren wird, die Fundamente des Staats zu befestigen, anstatt sie zu 
zerstören, auch jetzt auf der Bresche finden. Das gebietet mir das Christenthum 
und mein Glaube. (Lebhafter Beifall.) Die Generaldiscussion wird hiemit 
geschlossen. 
8.—9. Febr. (Bayern.) II. Kammer: Debatte über den Barth-Schüt- 
tinger'schen Initiativantrag betr. Wahrung der bayerischen Reservat- 
rechte gegen das deutsche Reich. Der Bericht und Antrag der patrio- 
tischen Majorität des Ausschusses, die Rede des Referenten Sedlmayr 
und ein Vermittlungsantrag des patriotischen Abg. Huttler, mit dem 
sich die ursprünglichen Antragsteller einverstanden erklären, lassen nach- 
gerade kaum mehr erkennen, nicht zwar was die patriotische Partei 
eigentlich will, worüber kein Zweifel ist, wohl aber, wie sie ihre Ab-
	        
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