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Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder.
sichten formuliren soll, was von der nationalen Partei scharf und
vielfach nicht ohne Hohn ins Licht gestellt wird. Reden Jörgs für,
Völks sowie der Minister Lutz und Hegnenberg gegen den Antrag.
Bei der Abstimmung erhält der Huttler'sche Modifikationsantrag nur
76 ultramontane gegen 72 liberale Stimmen, also nicht die erforder-
liche Zweidrittelsmehrheit, gilt demnach für verworfen. Hierauf erhält
auch der Initiativantrag selbst nur 73 gegen 75 Stimmen, so daß
der ganze Antrag in allen Formulirungen dahin gefallen ist. Die
patriotisch= ultramontane Partei vermag nichts mehr durchzusetzen
und scheint im Gegensatze gegen ihr anfängliches Auftreten in ihrem
innern Zusammenhange mehr und mehr gelockert zu sein.
Als Anträge liegen der Kammer vor: der ursprüngliche Initiativantrag
der (patriotischen) Abg. K. Barth und Schüttinger, der Antrag des Ausschusses
nebst den Protokollen seiner Verhandlungen, aus welchen sich indeß nicht er-
kennen läßt, was im Ausschusse eigentlich angenommen, was abgelehnt worden
ist, und endlich ein neuer Modificationsantrag des (patriotischen) Abg. Huttler,
der folgendermaßen lautet: „1) In allen Fällen, in welchen der Bundesrath
über Erweiterung der Competenz des Deutschen Reichs beschließt, soweit hie-
durch die verfassungsmäßigen Landesrechte Bayerns oder die in
Art. 78 Abs. 2 der Regierungsvorlage Bayern gewahrten Re-
servatrechte eine Aenderung erleiden, sind die bayerischen Vertreter
im Bundesrath bezüglich ihrer dort abzugebenden Erklärungen an die Zu-
stimmung der Kammer der Reichsräthe und der Kammer der Abgeordneten
gebunden."
Debatte: Ausschußrefent Sedlmayr erinnert in seiner Rede für den
Ausschußantrag zunächst an die großen Thaten und Verluste der bayerischen
Heere in dem deutsch-französischen Kriege. Man sprach damals im Norden
viel von einer besonderen Anerkennung, welche man Bayern für sein heroisches
und opferfreudiges Eintreten in den Krieg schuldig sei. Statt dessen erfolgten
die Versailler Verträge, welche Bayerns uralte Selbständigkeit schwächten.
Schon früher, im Jahre 1863, war die allgemeine Sehnsucht der deutschen
Nation nach einer Bundesreform, ihrer Erfüllung nahe; damals verhinderte
die „freie Hand“ im Norden diese Reform. Dennoch hat man im Jahr 1870
willig den besten Theil der bayerischen Selbstständigkeit in diese „freie Hand“
niedergelegt. Aber es geschah unter der Voraussetzung, daß das neue Reich
eine föderative Grundlage habe, daß man nur so viel an das Reich abtreten
werde, als zu dessen Constituirung absolut nothwendig sei. Bei der Debatte
über die Versailler Verträge wurde vom Ministertische nicht gesagt, daß im
Norddeutschen Bund über die Stellung der Landtage zu den Bundesraths-
mitgliedern eine „Controverse“ aufgetaucht und gegen die bezügliche Competenz
der Einzellandtage entschieden worden sei. Hr. v. Lutz hat damals gesagt,
daß die bayer. Reservatrechte „nicht ohne uns, nicht ohne unsern Willen“ ab-
geschafft werden können. Dieses „Uns“ kann nur das Ministerium als Ver-
treter der Krone, und die Volksvertreter, zu denen es gesprochen wurde, bedeutet
haben. Aber schon im November v. Js. sprach Hr. v. Lugtg im Reichstage
die entgegengesetzte Ansicht aus, und erläuterte dieselbe hier im December v. J.
ausführlich. Das Recht der Landesvertretung auf die Zustimmung zum
Aufgeben von Reservatrechten ist dadurch in Frage gestellt, es handelt sich jetzt
darum, ob wir dieses Recht unbedingt abtreten müssen, weil man es in Berlin
so wünscht. Das passirt im Jahr nach der Gründung des deutschen Reiches
— was wird 1873 passiren:? Nun wird gesagt: das Deutsche Reich muß
sich fortbilden, das soll wohl heißen: es muß alle Landesrechte aufsangen
und sich in den Einheitsstaat verwandeln. Bei der Debatte über die Ver-