Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreizehnter Jahrgang. 1872. (13)

Las deutsche Reich und seine einjelnen Glieder. 71 
sailler Verträge behauptete man nur, einen Föderativstaat gründen zu wollen; 
wenn aber Hr. v. Lutz mit seiner jetzigen Auffassung Recht hat, dann haben 
wir den Einheitsstaat bereits, und zwar den absolutistischen. Das Beispiel 
des „Generalsuperintendenten“ v. Werder zeigt uns, was wir in dieser Hin- 
sicht zu erwarten haben. (Heiterkeit.) Jetzt freilich wird man die unitarische 
Bewegung zu hemmen suchen, weil das Mißtrauen einmal vorhanden und 
Lärm geschlagen ist; aber man wird das Werk an jedem geeigneten 
Zcitpunkt wieder aufnehmen. Hr. v. Lutz hat gesagt: kein Minister werde 
ein wichtiges Reservatrecht ausgeben, ohne der Zustimmung seines Land- 
tages versichert zu sein, nicht aus Rechtspflicht, sondern aus natürlicher Klug- 
heit, um dem „Damoklesschwert“ des Mißtrauensvotums oder gar der Mi- 
nisteranklage zu entgehen. Aber wir haben doch wahrhaftig schon genug 
Mißtrauensvota ausgesprochen — und was haben sie genützt? (Heiterkeit.) 
Constitutionell genommen, war doch gewiß das Votum vom 27. Jan. d. J., 
die Stimmengleichheit für und gegen das Ministerium, ein Mißtrauensvotum, 
aber die Regierung nahm es als Triumph auf. Und was nützt am Ende 
sogar die Ministeranklage wegen aufgegebener Reservatrechte; damit kommen 
sie nicht wieder, wenn sie einmal fort sind. Huttler erklärt, seinen Modifi- 
kationsantrag deshalb eingebracht zu haben, weil er ohne diese Modifikation 
dem Initiativantrag nicht beistimmen kann. Redner will die Selbstentwicklung 
des Deutschen Reiches an sich nicht hindern, sondern ihr nur dort entgegen- 
treten, wo es sich um die bayerische Verfassung handelt. Man wird freilich 
sagen: dann werde die Reichsverfassung sich gar nicht weiter entwickeln können, 
wenn iedes Land sich mit seinen Spccialrechten entgegenstellt. Aber die Weiter- 
entwicklung des Deutschen Neichs hat auch keine so große Eile. Schüttinger 
läßt seinerseits den ursprünglichen Initiativantrag fallen und erklärt sich für 
die Huttler'sche Fassung. Er constatirt den Vertragscharacter der Reichsver- 
fassung, verliest sämmtliche bayerische Reservatrechte und schließt damit, daß 
der Antrag gleichmäßig auf dem Boden des Reichs= des Landesrechtes stehe. 
Völk gibt nach dem Gehörten die Hoffnung auf, seinen HH. Vorrednern klar 
zu machen, um was es sich eigentlich handelt. (Heiterkeit.) Er möchte den 
Menschen sehen, der nach Lectüre der Ausschußprotokolle weiß, was im Aus- 
schusse eigentlich angenommen und abgelehnt ist. (Sehr richtig.) Redner 
macht hierauf einige ironische Bemerkungen über das schlechte Deutsch des 
Antrages, und möchte wissen, was jetzt aus dem Ausschußantrag geworden 
ist, nachdem die ursprünglichen Antragsteller ihren Antrag zu Gunsten der 
Huttler'schen Modifikation zurückgezogen haben. Dieser Akt berechtigt geschäfts- 
ordnungsmäßig den Ausschuß nicht zur Zurückziehung des von ihm einmal 
angeeigneten Antrages. Es herrscht also vollständige Confusion. Man ver- 
mischt immer die Fragen: erstens was kann das Reich nach seiner Competenz 
über Art. IV der Reichsverfassung hinaus beschließen, und zweitens welche 
Wirkung hat ein solcher Beschluß auf Bayern? Die Herren meinen: keinen; 
aber dann ist auch der Initiativantrag unnöthig, denn dann gilt ja die von 
Bayern im Bundesrath abgegebene Stimme nichts. Man will also die Mi- 
nister anklagen, für eine Abstimmung, die nichts gilt. Man redet von still- 
schweigenden Reservatrechten. Glaubt man wirklich, daß die Norddeutschen 
sich den Vorbehalt unbestimmter Reservatrechte hätten gefallen lassen, daß sie 
einen Bundesvertrag mit solchen Bestimmungen angenommen hätten? Hr. 
v. Lutz kann hier vielleicht erzählen, welche Mühe es gekostet hat, auch nur 
das 14 Stimmenveto durchzusetzen. Am 28. December 1870 erklärte Graf 
Bray: die Aufgabe der Reichsverfassung sei, das bisherige vertragsmäßige 
Verhältniß zwischen Bayern und Norddeutschland in ein verfassungsmäßiges 
umzuwandeln. Genau ebenso faßten auch die Herren auf der Gegenseite die 
Verträge auf, und deßhalb wollten sie auch dazu „Nein“ sagen. Redner be- 
weist diese damals seitens der „Patrioten“ gehegte Auffassung der Verträge 
ans den damaligen Reden von Greil, Jörg, Kurz und Freytag. Unter
	        
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