Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 11.- 12.) 11
In der Debatte hebt der Abg. Hobrecht (nat.-lib.) die Bedeutung
und Tragweite des Antrags Windthorst folgendermaßen hervor: „das Gesetz
ist in der ersten Zeit nach seiner Emanation zwar vielfach angewendet wor-
den, die Anwendung hat aber rasch nachgelassen, und aus den letzten Jahren
liegt von einer solchen gar kein Beispiel vor. Wenn wir daher jetzt in eine
erneute Erörterung des Gesetzes treten, wenn wir es in diesem Augenblick
aufzuheben beschließen ohne den Antrieb, den uns besondere tatsächliche
Übelstände als Ausflüsse jenes Gesetzes geben können, dann hat diese Be-
schlußfassung die notwendige Voraussetzung, daß wir ihr eine Prüfung der
preußischen kirchenpolitischen Gesetze zu Grunde legen müßten, und es würde
die Annahme dieses Antrags eine prinzipielle Verurteilung
der ganzen bisherigen preußischen Kirchenpolitik enthalten.
Diese prinzipielle Bedeutung einer Annahme des Antrags wird geschärft, wenn
man die augenblicklichen Verhältnisse ins Auge faßt. Wir wissen lange,
und es ist auch von den Verteidigern der Vorlage hervorgehoben worden,
daß die preußische Regierung in diesem Augenblicke und schon seit Jahren
bemüht ist, die Schärfen des Konflikts zu mildern. Wir wissen, daß sie in
Unlerhandlungen steht. um Mittel und Wege zu finden, ein friedlicheres
Verhältniß zwischen Kirche und Staat herbeizuführen. Wir wissen, daß in
wenigen Tagen der preußische. Landtag eröffnet wird, und wir wissen, daß
eine seiner Hauptaufgaben sein wird, die kirchenpolitischen Fragen in der
Form eines neuen kirchenpolitischen Gesetzentwurfes in Beratung zu ziehen
und darüber Beschluß zu fassen. Wenn in diesem Augenblick von hier aus
das Gesetz vom Jahre 1874 angegriffen, wenn es aufgehoben wird, so
greifen wir damit tatsächlich in einer Weise der Erledigung dieser Frage
im preußischen Landtage vor, greifen hinein in die innere Gesetz-
gebung des preußischen Staates in einem Maße, wie es noch
nicht geschehen ist.“ Die Nat.-Lib. werden nach der Erklärung Hobrechts
also gegen den Antrag Windthorst stimmen. Aber auch ein Teil der Frei-
konservativen und ebenso Hänel vom Fortschritt und Forckenbeck von den
Secessionisten sind gegen denselben. Immerhin wirken auch bei diesen die
vom Abg. Birchow dargelegten Motive bis auf einen gewissen Grad, wenn
er sagt: „Wir haben die Empfindung, daß die Regierung uns Liberale in
eine Stellung brachte, daß alles Odium des Kulturkampfes auf uns ruht,
während wir doch der Regierung nur folgten. Die diskretionären Gewalten,
die Polizeigewalt, hat man beliebig ausgebeutet, jetzt sollen wir die Ver-
antwortung dafür tragen, während sich die Regierung aus dem Staube macht.
Man kann es uns nicht verdenken, wenn wir uns dieser Verantwortlichkeit
entziehen wollen. Wir wollen nicht der Prügelknabe der Regierung sein.
Wir sind nicht die Mähre, die der Reichskanzler regelmäßig reiten kann.“
Dieses Gefühl regt sich mehr oder minder auf der ganzen Linken, und wenn
die Regierung neuerdings „diskretionäre Gewalten“ verlangt, so wird die
Linke wahrscheinlich sagen oder wäre wenigstens berechtigt zu sagen: Gesetze,
deren regelrechte Anwendung man nicht mehr nötig findet und nicht will,
die sollen auch nicht bestehen bleiben; darin gehen wir mit dem Zentrum,
wenn der Kanzler nicht für die ordentliche Aufrechthaltung mit uns gehen
will. Viel weiter geht dagegen der Abg Eng. Nichter (Fortschr.), dem
die Zustimmung zum Antrage Windthorst nur ein Mittel zu einem viel
weiteren Zwecke, der Bekämpfung des Reichskanzlers überhaupt, ist, und der
seine lange Rede für den Antrag dahin schließt: „Wenn uns noch irgend
ein Zweifel sein konnte, wohin wir jetzt die ganze Front zu richten
haben, so hat uns doch der Erlaß vom 4. Januar auch den letzten Zweifel
darüber beseitigt; es ist das jetzt eingetreten, was man leider schon lange
voraussehen mußte, in der schärfsten und schroffsten Form. Als ich hier