Full text: Europäischer Geschichtskalender. Sechzehnter Jahrgang. 1875. (16)

152 Das deulsche Reich und seine einjeinen Slleder. (Juli 15.) 
habe durchaus keine Hoffnung, daß unter dem nächsten oder einem der näch- 
sten Päpste irgend etwas im Großen und Wesentlichen gut gemacht werde, 
und so viel ich wahrnehme, sind Alle, welche den Zustand der römischen 
Curie und des römischen Clerus kennen, nach dieser Seite eben so hoffnungs- 
los als ich. In dieser Papstgemeinschaft in und außerhalb Italiens gibi 
es nur noch eine einzige treibende Kraft, der gegenüber alles Andere, Epis- 
copat, Cardinäle, geistliche Orden, Schulen u. ö w. sich passiv verhält, und 
das ist der Jesuitenorden. Er ist die Seele, der Beherrscher des ganzen rö- 
mischen Kirchenwesens. Dies wird auch unter einem neuen Papst wohl so 
bleiben, weil dieser Orden unentbehrlich ist und zugleich, ohne zu herrschen 
oder herrschen zu wollen, gar nicht erisliren kann. . her, vor 1793, waren 
in der Kirche mannigfache Gegengewichte da, die anderen Orden waren noch 
stark und lebenskräftig; jetzt sind die anderen Orden entweder machtlose Schat- 
ten, oder halb willige, halb unwillige Trabanten des leitenden jesuitischen 
Gestirns, und die rômische Curie muß, um Curie zu bleiben, ihr kirchliches 
Monopol, ihre Geldmitlel u. s. w. zu bewahren, sich auf die Jefuiten stützen, 
d. h. ihnen und ihren Impulsen dienen. Die Jeluiten aber find die Fleisch 
ewordene Superstition, verbunden mit Despotismus. Die Menschen beherr- 
Hhn mittels des ihnen dienstbar gewordenen Papstes — das ist ihre Auf- 
abe, ihr Ziel, ihre mit Meisterschaft geübte Kunst. Daher das Streben, 
ie Religion zu mechanisiren, das sacrificio dell' intelletto, das sie anprei- 
sen, die Seelen-Dressur zu unbedingtem, blindem Gehorsam r. Wie es aber 
jetzt, seit dem 18. Juli 1870, in der römischen Gemeinschaft ausfieht, und 
was für die nächste Zeit zu erwarten ist, mögen Sie daraus ersehen, daß 
das Monströseste, was frauf dem Gebiete der theologischen Lehre vorgekom- 
men, ohne eine einzige dagegen laut werdende Stimme hot vollbracht werden 
können, ich meine die feierliche Proklamirung des Alphons Liguori zum doctor 
ecclesiac (also neben Augustinus, Ambrosius 2.), des Manncs, dessen falsche 
Moral, verkehrter Mariencult, dessen beständiger Gebrauch der krassesten Fa- 
beln und Fälschungen seine Schriften zu einem Magazin von Irrthümern 
und Lügen macht. Mir ist in der ganzen Kirchengeschichte kein Beispiel einer 
so furchtbaren, so verderblichen Verirrung bekannt. Und dazu schweigt Alles, 
und in allen Seminarien wird die nachwachsende Generation des Clerus mit 
diesen Büchern des Liguori vergiftet! Lange kann nun freilich ein solcher 
Zustand nicht dauern; es muß Über kurz oder lang irgend wie oder irgend 
wo eine Reaktion zum Besseren eintreten — aber dieses Wo und Wie ist 
eben unseren Augen verborgen. Auf Ihre dritte Frage, was ich Ihnen zu 
thun rathe, antworte ich: Folgen Sie ihrer Ueberzeugung, und lassen Sie 
ch nicht durch die Vorwände der zu bewahrenden Einheit und des unbe- 
ingten Gehorsams bethören, womit jeder Irrwahn und jede noch so arge 
Verunstaltung der Religion beschönigt wird. Was wir in diesem elenden 
Zustande thun können und thun sollen, ist: Zeugniß ablegen vor Gott und 
der Welt, der von uns erkannten Wahrheit die ihr gebührende Ehre zu ge- 
ben. Der allgemeine Indifferentismus, die bloß auf die eign Bequemlich- 
keit bedachte, stumpfsinnige Hütung des Clerus hat dieses Unheil des Vati- 
canum über uns gebracht. Je größer die r-*n der Bereuenden und von der 
falschen Lehre und Obedienz sich Lossagenden wird, desto höher steigt die 
Hoffnung einer Genefung.“ 
— Juli. (Preußen.) Der abgesetzte Bischof Martin von 
Paderborn verbffentlicht als Frucht seiner unfreiwilligen Muße in 
der Festung Wesel einen Katechismus des katholischen Kirchenrechts, 
der bezüglich des Verhältnisses zwischen Staat und Kirche folgende
	        
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