Full text: Europäischer Geschichtskalender. Siebzehnter Jahrgang. 1876. (17)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März 18—20.) 97 
18. März. (Preußen.) Abg--Haus: erste Lesung des Ge- 
setz-Entwurfs einer neuen Städteordnung. Derselbe wird an eine 
Commission von 21 Mitgliedern gewiesen. 
Die Debatte gestaltet sich sehr interessant. Die wichtigsten Redner 
sind die Abg. Miquel und Eugen Richter und der Minister des Innern. 
Sehr entschieden bekämpft Miquel, in Sachen der Städteverwaltung eine Auto- 
rität, die allzu große Gewalt, welche der Entwurf dem Bürgermeister ein- 
räumt; ebenso erklärt er sch gegen die zu großen Aufsichtsrechte der Ver- 
waltungsbehörden. Richter befürwortet Namens der Fortschrittspartei, die 
auch einen dahingehenden Antrag einbringt, die Ansdehnung des Gesetzes 
auf die Provinzen Posen, Rheinland und Westphalen, indem er klarlegt, 
daß eine längere Ausschließung der erwähnten Provinzen von der Verwal- 
tungsreform die clericale Partei stärke und die Gegensätze mehr schärfe, als 
wenn man möglichst rasch ein beinbeitlichen Gesetzgebungsgebiet herstelle. Der 
Minister des Innern, Graf Eulenburg, ist auffallend entgegenkommend für 
die Wünsche der liberalen Redner, und namentlich ist es überraschend, wie 
bereitwillig er sich dem letzterwähnten Wunsche gegenüber verhält. Er habe 
iich nur über die Stimmungen vergewissern wollen, und warte darauf, dem 
König die Ausdehnung der Städteordnung auf andere Provinzen zu empfehlen. 
20. März. (Preußen.) Herrenhaus: Graf Udo v. Stol- 
berg interpellirt die Regierung in Betreff einer Reichseisenbahnvorlage. 
Die Interpellation ist von 21 Mitgliedern des Herrenhauses, darunter 
Graf Moltke und Bürgermeister Hobrecht, unterstützt und stellt sich somit 
als eine Provocation der Regierung zur Einbringung der Vorlage dar. 
Graf Stolberg bekennt sich denn auch bei Motivirung der Interpellation 
als warmer Freund des Projectes. Derselbe verweist darauf, daß er schon 
feüher für die Idee eingetreten, das gesammte Eisenbahnwesen an das Reich 
Übergehen zu lassen; daher habe er die Nachricht mit Freuden begrüßt, nach 
welcher nunmehr diese Angelegenheit geregelt werden solle. Er habe geglaubt, 
daß diese Frage im Abgeordnetenhause angeregt werden würde; da aber die- 
selbe dort bisher mit keinem Worte erwähnt worden sei, so habe er sich ver- 
anlaßt gesehen, die Sache hier zur Sprache zu bringen. Früher habe diese 
Idee vielfachen Widerspruch erfahren, in der letzten Zeit aber sei in der 
öffentlichen Meinung ein Umschwung eingetreten. Der Graf geht nun auf 
die Entwickelung des preußischen Eisenbahnwesens über. Der Rückgang in 
den Einnahmen der Eisenbahnen sei nicht in Folge des Krachs, sondern schon 
im Jahre 1872 eingetreten. Hätte der Staat von vornherein das Eisenbahn- 
wesen in seine Hand genommen, so würde er jetzt schon  das ganze Land 
mit einem Netz von Eisenbahnen überzogen haben. Dieß sei leider jetzt nicht 
der Fall; man habe das Eisenbahnwesen größtentheils in den Händen der 
Priratindustrie gelassen und dadurch ganz erhebliche. Unzuträglichkeiten für 
die Landwirthschaft und die Industrie geschaffen. Diese finden namentlich 
in den Bestimmungen und Einrichtungen der Differential-Tarife ihren Grund. 
Man habe schon lange gesucht, diesen Beschwerden Abhilfe zu schaffen. Das 
in Vorschlag gebrachte Aechseifenbahngeseg halte er nicht dazu für geeignet. 
Die „Privatbahnen könnten aber ohne die beträchtlichen Differenzial-Tarife 
nicht bestehen, und deßhalb bleibe seiner Meinung nach nichts übrig, als 
daß der Staat oder das Reich den gesammten Eisenbahnbetrieb in die Hand 
nehme. Dieß sei auf drei verschiedenen Wegen zu erreichen: 1) durch Ver- 
einigung aller Verkehrsmittel (Post, Telegraphie und Eisenbahnen) in den 
Händen des Staates — das halte er unter den jetzigen Verhältnissen für 
Schulthess, Europ. Geschichtskalender. XVII. Bd.                   7
	        
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