108 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (März. 30.)
den Jahren 1874 und 1875 seien an die Regierung gelangt, keiner habe
dem Bundesrathe vorgelegen. Die Regierung habe diese Entwürfe unter
ernster Berücksichtigung der Reichsverfassung, dann erst der Landesinteressen
berathen und den ersten Entwurf im Jahre 1874 beantwortet. Die Regie-
rung habe in ihrer Antwort nicht bloß Bedenken geltend gemacht, sondern
auch Gegenvorschläge gemacht, die von dem Reichseisenbahnamte in dem zwei-
ten Entwurfe größtentheils ausgenommen worden seien. Der zweite Ent-
wurf habe Bestimmungen enthalten, daß die unmittelbare Aufsicht über alle
deutschen Bahnen dem Reiche zufalle. Hierin habe die Regierung eine for-
melle und materielle Aenderung der Reichsverfassung gesehen. Es habe
namentlich bedenklich geschienen, einen Grundsatz von solcher Tragweite an
die Spitze zu stellen, ohne das Verhältniß dieses Grundsatzes zu den Einzel-
bestimmungen des Entwurfes festanstellen. Die Regierung habe geglaubt,
daß dieser Grundsatz wegfallen und doch ein brauchbares Gesetz zu Stande
kommen könnte. Der Reichskanzler habe dem Bundesrathe die Ergebnisse
der Enquete-Commission vorgelegt und sich vorbehalten, auf Grund derselben
Vorschläge zu dem Reichseisenbahngesetze zu machen. Bis jetzt seien noch
keine Vorschläge erfolgt. Würtemberg sei jederzeit bereit, einem allgemeinen
Tarifgesetze, das die Landesinteressen nicht gar zu empfindlich schädigte, bei-
zutreten. Die Regierung habe gegen den Schluß des vorigen Jahres glaub-
haft erfahren, daß nur Privatbahnen von dem Reiche gekauft werden sollten.
Dieß habe er (der Minister) bei dem bekannten Toast in Ulm im Auge ge-
habt. Die Regierung habe gegenüber dem Standpunkte einer Bundeeregie-
rung, welche den Verkauf ihrer Bahnen an das Reich erwägt, selbst als
Bundesregierung den Ankauf in Erwägung gezogen und vor Monatsfrist
ihren Gesandten in Berlin beauftragt, zu erklären, daß Würtemberg für den
Ankauf deutscher oder preußischer Bahnen durch das Reich seine Stimme
aus politischen, finanziellen und volkswirthschaftlichen Gründen nicht abzu-
geben vermöge, (Beifall.) Der Minister führt aus, daß die Eisenbahnen
nicht wie die Post und der Telegraph durch die Reichsverfassung dem Reichs-
vindicirt seien, das Project aber die Reichsverfassung ändere; er hält es nicht
für wünschenswerth, daß Würtemberg neben seinem eigenen Eisenbahn= Deficit
noch das Reichseisenbahn-Deficit tragen helfe. Man sehe häufig an dem
Bestehenden nur die Schaltenseiten und bei Zukünftigem nur die Lichtseiten.
Auch in der Reichseisenbahnfrage liesen manche Illusionen mit unter. Wenn
an die Regierung die Frage wegen Abtretung der Eisenbahnen, Post oder
Telegraphen herantrete, werde die Regierung Nichts ohne Zustimmung der
Kammer unternehmen. Wenn Preußen die Bahnen für sich ankaufe, werde
es eine gewaltige Eisenbahnmacht. Er sei aber überzeugt, daß Preußen
nicht, wie Elben glaube, seine Macht mißbrauchen werde. Wolle Preußen
rücksichtlos sein, so könne es mit oder ohne eigene Eisenbahnmacht oder
Reichsbahnen Alles durchführen. Wenn der Reichskanzler dem Reiche, wel-
ches er über Preußen stelle, den Ankauf der preußischen Bahnen anbiete,
müsse Jedermann annehmen, daß er dem Reiche nützen wolle; andere An-
nahmen seien ausgeschlossen. Hiervon ausgehend, werde Würtemberg die
Sache wiederholt prüfen und seinen Standpunkt innerhalb des Bundesraths
in bescheidener bundesfreundlicher Weise bis zum Ende entschieden vertreten.
„Wir werden“, schließt der Minster. „uns nicht scheuen, unsere Ansicht zu
vertreten trotz dem Terrorismus in der Presse, die uns Particulorismus vor-
wirft. Auf Oesterlen's Anfrage nehme ich keinen Anstand zu sagen, daß ich
die Frage, ob das preußische Project eine Aenderung der Verfassung mit
sich bringe, keinesfalls verneine. Ich ersuche die ’ sich heute dabei zu
beruhigen, daß die würtembergische Regierung dieser Frage jedenfalls in
keiner Weise präjudicirt hat.“ (Lebhafter Beifall.)