Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Nov. 6.) 197
ander zu pfropfen und durch eine Beimischung von modernen Ideen den
Islam noch existenzfähig zu machen. In meinen Augen wäre die beste
Lösung der orientalischen Frage die, daß alle europäischen Mächte in neid-
loser l zusammenwirkten, von der Türkei das lebens- und lei-
stungsunfähige Herrschaftselement abzunehmen und einen europöischen Vertrags-
fürsten einzusetzen, aber unter strengster Innehaltung des gesammten türki-
schen Ländergebiets. Die russische Politik strebt nach Zertrümmerung der
Türkei in ihrem Interesse und unter dem Titel der flavischen Gesammt-=
nationalität. Eine solche Zertrümmerung kann unbedingt nicht stattfinden,
ohne daß die territorialen Veränderungen früher oder später die Grenzen der
Türkei überschreiten, und daß eine allgemeine Compensationspolitik in'’s
Leben tritt. Dann wird die türkische Frage unmittelbar die österreichische
Frage, und wohl niemand wird dann bei der jebigen russischen Politik noch
auf lange Jahre den Gesammtbestand der österreichischen Monarchie verbürgen
können. Es ist allerdings gesagt worden, daß Preußen und Deutschland
weit ab von den Grenzen der Türkei liege und kein directes Interesse an
der orientalischen Frage habe. Wenn das deutsche Reich begierig sein sollte,
früher oder später die 8 oder 10 Millionen Deutsch-Oesterreicher in irgend
einer Form dem Reich anzuschließen (Stimme: Nein!), dann ist die russische
Allianz der rechte Weg. Soll aber Oesterreich in seiner gegenwärtigen Ge-
stalt erhalten werden, dann ist diese Alliang sehr gefährlich, und ich glaube,
daß das enge Zusammenhalten des Deutschen Reiches mit Oesterreich den
Russen der schärfste Dorn im Auge ist. Die Thronrede enthält darüber
einen sonderbar stylisirten Satz, und wenn da von Mächten die Rede ist,
die in Streit mit einander gerathen könnten, so hat wohl jedermann darunter
Oesterreich und Rußland verstanden; es ist allerdings gesagt, daß Deutsch-
land die Vermttelung zwischen beiden übernehmen wolle; aber wenn nun
ein Conflict ausbricht, auf wessen Seite wird Deutschland dann stehen: Ich
habe schon vor zwei Jahren gesagt, daß in Rußland jetzt das Zünglein der
europäischen Waage sei; diese unangreifbare Stellung Rußlands ist nicht un-
vorbereitet gekommen, sondern durch die völlige Vernichhung * europäischen
Gleichgewichts in Folge der großen Ereignisse von 1866 und 1870 hervor-
gerufen worden. Als die Vertreter des Volkes in Versailles anwesend waren,
hat mir der damalige auswärlige Minister -uuter vier Augen mitgetheilt
er habe Graf Bismarck dahin verstanden. daß der nächste Krieg gegen Ruß-
land zu führen sei. (Heiterheit. Ich habe schon damals geglaubt, daß dieß
ein Mißverständniß sei. Wenn man aber die jetzige Situation nicht hätte
herankommen lassen wollen, so hätte man nicht geschehen lassen sollen, was
geschehen ist: Oesterreich ist aus Deutschland ausgeschlossen und als Groß-
macht in seinen Grunddfesten erschüttert. In Süddeutschland besteht jeden-
falls über die Haltung der Reichsregierung eine nicht geringe Aufregung;
denn es handelt sich um die Donau, und ein guter Theil unserer Geschichte
hat sich längs der Donau entwickelt; wundern Sie esich also nicht, wenn
jetzt manche alten Reminiscenzen erwachen, wo zu befürchten steht, daß die
Donau-Mündungen in den russischen Machtbereich kommen. Der große Feld-
herr des deutschen Reiches, der sich in unserer Mitte befindet, hat in seiner
Rede zur Vertheidigung des Militärgesetzes zwei Sätze ausgesprochen, die
noch nicht vergessen sind: „Das deutsche Reich ist in der Lage, die gewonnenen
Erfolge noch ein halbes Jahrhundert lang vertheidigen zu müssen,, und:
„Achtung haben wir überall gewonnen, Liebe nirgends.“ Wenn Rußland
seine Ziele auf dem Gebiete des türkischen Reichs erlangt hat, so ist es nicht
unmöglich, daß die jetzige Krisis für Rußland selbst der Ausgangspunkt
merkwürdiger Veränderungen ist; denn es will etwas bedeuten, wenn der
Czar selbst erklärt: daß er sich dem Willen der Nation werde beugen müssen.