50 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Jan. 27.)
sich Luft machen? ist es nicht sehr gut, wenn man sich beruhigt, ihnen die
Wege zeigt, auf denen sie zur Verbesserung ihrer Lage gelangen können?
wie kann solchen Bewegungen mit Strafgesetzen entgegegentreten werden wollen,
als mit ganz unwirksamen oder vielleicht absolut schädlichen Mitteln? Diese
Bewegung muß in sich selbst untergehen und sie wird es, wenn man ver-
nünftigen Zusprachen, vernünftigen Lehren Raum läßt. Meine Herren, es
wird Ihnen unbekannt sein — es kommt nicht in die Zeitungen — welche
Art in den socialistischen Vereinen gelehrt wird: zuerst nach einer Parole
der Agitationen nur Unzufriedenheit und daun zur Heilung derselben als
Weg, auf bessere Bahnen zu kommen, dumpfes Geschwätz, Phrasen, aber
aller Orten und vor allen Dingen Klassenhaß. Die Adgitatoren belehren
nicht, sie machen nur auf die augenblicklichen Zustände, die Unannehmlich-
keiten aufmerksam, sie rufen Zerwürfnisse hervor, wo sie bisher nicht waren,
sie ziehen nach und nach einzelne Klassen der Bevölkerung, die bisher für
dergleichen Lehren noch nicht empfänglich waren, heran. Sie fangen an mit
dem Tagelöhner, sie gehen hinauf zum höheren Arbeiter, sie wenden sich an
den entlassenen Soldaten, an die niedrig besoldeten Beamtenklassen, Alles
wird bearbeitet, um ihnen darzustellen, in welcher unerträglichen Lage sie
wirken und wie mit ihren Menschenrechten gespielt wird. Ein sozialistischer
Führer sagt: Den französischen und englischen Arbeiter muß man lehren,
wie er in der traurigen Lage sich helfen soll, euch muß man beweisen, daß
ihr in einer traurigen Lage seid. Diesen Beweis täglich vor jeder Versamm-
lung zu führen, ist zunrächst die Aufgabe der socialdemokratischen Agitatoren,
Unzufriedenheit erzeugen dadurch, daß man ihnen beweist, was ihnen fehlt
und sie zugleich an Bedürfnisse gewöhnt, die sie nicht befriedigen können.
Wer diese Klasse der Bevölkeruug beobachtet hat, muß sich sagen, daß die
Bedürfnisse, welche sie befriedigen wollen, über das hinausgehen, was sie
unter normalen Verhältnissen befriedigen können. Dadurch, daß man ihnen
auf der einen Seite sagt: Du hast das nöthig und auf der andern Seite
sagt: Das kannst Du nicht beschaffen, wächst der Unmuth, die Unzufrieden-
heit, die Lust, sich von den Fesseln los zu machen. Ich erlaube mir aus
dem „Neuen Socialdemokrat", Jahrgang 1875, folgende Stelle zu verlesen:
„Protetarier, wollt ihr Protetarier bleiben! Männer der Arbeit, die Sonne
scheint überall. Seht die Felder an, das ist euer Schweiß, ihr habt es durch-
geführt, mit kräftigem Arm habt ihr das Feld gebrochen, ihr habt die Saat
gestreut, ihr schwingt die Sense, ihr speichert die Früchte auf, daß jedes
erz frohlockt bei den köstlichen Spenden der allbeglückenden Natur, ja das
ist die Frucht Eurer Arbeit und Cures Schweißes. Doch ist es Euer:
Sprecht, Männer der Arbeit, für wen habt Ihr gearbeitet, für wen gepflügt,
gesaet, geeggt, gedroschen, in die Scheuern getragen! Für den Gutsherrn.
Sein eigen ist das Land, sein ist das Korn, sein ist Alles: auch Eure Kraft,
die Eures Weibes, Eures Sohnes, Eurer Tochter ist sein eigen, an ihn ver-
kauft Ihr sie für den Lohn, thut Ihr es nicht, so müßt Ihr verhungern.“
Die Unzufriedenheit bewirkt nicht nur, daß die Arbeiterklassen als nothlei-
dend angesehen werden, sondern daß auch die anderen Klassen als diejenigen
geschildert werden, welche diese Noth veranlaßt haben. Redner verliest einen
die „Kanaille" überschriebenen Leitartikel des „Neuen Socialdemokrat“, der
mit den Worten beginnt: „Das Volk ist eine Kanaille, so lange die Bourgeois-=
gesellschaft dauert“, und einen zweiten Artikel desselben Blattes, in dem der
Klassenkampf als ein gewaltig gerstörendes, aber als ein nicht zu beseitigen-
des Uebel erklärt wird, denn „Versöhnung ist Verhöhnung der Arbeiter“,
und fährt fort: Darüber brauche ich kein Wort zu verlieren, welche enorme
Gefahr in diesen Grundsätzen liegt, sobald die Porte in die Lage kommen
sollte, dieselben wirklich anwenden zu können. Die letzte Intention der