Full text: Europäischer Geschichtskalender. Siebzehnter Jahrgang. 1876. (17)

52 Das deutsche Reich and seine einzelnen Glieder. (Jan. 27.) 
daß sie in demselben eine Waffe sehe, welche ihr das Kämpfen mit körper- 
lichen Waffen überflüssig mache, so ist doch wohl Grund vorhanden, eine 
Antwort darauf zu geben. Es genügt nicht nur eine Abweisung dieses An- 
trages, welche nach den Vorträgen hier im Hause wahrscheinlich ist, sondern 
man muß auch die Gründe angeben, warum dies geschieht, denn wenn man 
in der That die Wahl hätte, entweder mit diesem Paragraphen oder Ba- 
taillonen von Soldaten auszumarschiren, so würden wahrscheinlich mindestens 
neun Zehntel des Hauses die mildere Form dieses Paragraphen wählen. 
Wir stehen hier am Anfang der Frage: Bedarf es bei der freien Presse noch 
der körperlichen Gewalt, oder hat dieselbe. in sich selbst die Kraft, das Wahre 
zum Durchbruch zu bringen und das Schlechte zurückzudrängen? Ist man 
der letzteren Ansicht nicht, so dürfte man überhaupt nicht die freie Presse 
zulassen. Ist sie aber einmal zugelassen, so ist es Sache des Strafgesetz- 
buchs, diejenige Grenze zu ziehen, wo die allgemein gedachte Gefährlichkeit 
aufhört und die wirkliche Gefahr für den Einzelnen hervortritt, daß er an 
seiner Person, seinem Eigenthum u. s. w. geschädigt werde. So sollte die 
„Anreizung zur Gewaltthätigkeit“ die scharfe Grenze ziehen im Gegensatz zu 
der bloßen subjektiven Aufregung, die durch die Behandlung von Preßgegen- 
ständen entstehen kann. Will aber der Herr Minister zu den früheren Dingen 
hierin zurückkehren, so war heute in der That nicht nöthig, gerade jene 
Stellen aus social-demokratischen Blättern hier anzuführen, denn man findet 
in den Blättern der andern Parteien gerade so starke Ausdrücke gegen Ein- 
richtungen der Gesellschaft, als die hier angeführten. Meine Herren! So 
habe ich Ausführungen gelesen, dahin lautend, daß der ganze Staat und 
insbesondere die liberale Richtung des Reichstags nur dazu gemacht sei, um 
den Börsenschwindel zu verdecken; solche Aeußerungen habe ich in mehreren 
innerhalb der Parteien geachteten Zeitungen in ganz neuerer Zeit gefunden; 
ja in Blättern der Agrarpartei, deren äußerstes Ende bis an die „Neue 
Preußische Zeitung“ heranreicht, wird man Stellen finden, gegen welche die 
vom Minister vorgelesenen Stellen ein Kinderspiel an Anreizung sind. Es 
sind mir solche Blätter erst vor wenigen Tagen zugesandt worden, die „Ger- 
mania“, die „Deutsche Landeszeitung“ ect., Blätter, die ich wirklich nicht auf- 
suche, wenn sie mir nicht aufgedrängt werden. (Heiterkeit.) In dem richtigen 
Gefühl, daß die Grenze hier nicht gefunden werden kann, wo das Anreizen 
anfängt, hat auch die conservative Partei ausdrücklich erllärt, daß sie gegen 
diesen Theil stimmen werde, und besteht hierin Einheit beinahe des ganzen 
Hauses und nur vereinzelte Mitglieder werden wohl aus besonderen Grün- 
den für diesen Punkt stimmen. Hiernach scheint es mir, daß allseitig Klar- 
heit darüber herrscht, daß das Mittel, das man vorschlägt, nicht so wirksam 
sein wird, wie man erwartet. Wir selbst erleben ja hier, daß durch eine 
richtige und freimüthige Behandlung der Presse und eine freimüthige Be- 
sprechung viel mehr Gutes als Nachtheiliges erreicht wird. So pflegte, als 
die — Redner für uns etwas neues waren, ein Still- 
schweigen einzutreten, sobald einer jener Redner die Tribüne bestieg, und selbst 
der Reichskanzler halte nie aufmerksamere Zuhörer, als jeder dieser Redner. 
Nachdem wir nun diese Reden ihrem Inhalt nach schon viele Male gehört 
haben, haben wir heute gesehen, wie Privatunterhaltungen gepflogen werden, 
während die schon so oft gehörten Dinge vorgetragen wurden. Und so ist 
es auch außerhalb dieses Hauses. Man weiß, wo freie Presse herrscht, daß 
der Werth der Aeußerungen nur nach seinem wirklichen Inhalt bemessen 
wird, denn wahrlich, wenn wir nicht das glauben, daß in der Diskussion 
der wahre Inhalt, der durchdachte Gedanke immer im Vortheil ist gegen 
bloße Phrasen, so würden wir uns nicht für die freie Presse erklärt haben. 
Wir fordern deßhalb Alle auf, sofern fie nur nicht zu Gewaltthätigkeiten 
 
	        
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