Full text: Europäischer Geschichtskalender. Siebzehnter Jahrgang. 1876. (17)

578 Atbersit der politischen Eutwichlunz des Jahres 1876. 
begeichnete einen neuen Scheich ul Islam und ernannte Ruschdi 
Pascha an die Stelle Mahmuds zum Großvezier. Allein nachdem 
der Stein einmal ins Rollen gekommen war, blieb es dabei nicht 
stehen; der Sultan selbst erkannte gar wohl, daß die Bewegung in 
letzter Linie ihm selber gelte und fürchtete nicht ohne Grund, daß sie ent- 
weder von seinem Neffen, dem gesetzlichen Thronfolger und seinen Brü- 
dern ausgehe, oder daß diese von den Unzufriedenen gegen ihn würden 
gebraucht werden. Er ließ dieselben daher in Gewahrsam bringen 
und scharf bewachen, während er selbst sich in seine Gemächer ein- 
schloß und den Palast nicht mehr verließ. Der Schlag kam aber 
doch, von wo und wie er ihn ohne Zweifel nicht erwartet hatte. Am 
30. Mai sprach sein eigener Ministerrath unter Zustimmung des 
Scheich ul Islam einstimmig seine Entsetzung aus und anerkannte 
den gesetzlichen Thronfolger als Murad V. als seinen Nachfolger. 
Die ganze Thronumwälzung war durchaus unblutig: nur Abdul 
Aziz selbst wurde das Opfer derselben: er entleibte sich wenige Tage 
nachher, wie offiziell angegeben wurde, selbst, wahrscheinlicher aber 
ist es, daß er gewaltsam erdrosselt wurde, um allen späteren 
Gefahren zum Voraus zu begegnen. Der neue Sultan Murad V. 
wurde inzwischen ohne alle Schwierigkeiten sowohl vom Lande als 
von den Mächten als solcher anerkannt, aber schon nach 10 Tagen, 
wie später offiziel zugestanden wurde, zeigten sich an ihm die ersten 
Anfänge eines Gemüthsleidens, das sich rasch entwickelte und ihn 
schon nach wenigen Monaten regierungsunfähig machte. Zunächst 
blieb das geheim und regierte mit oder ohne seine specielle Zustim- 
mung oder Ermächtigung das Ministerium, namentlich die drei 
hervorragendsten Mitglieder desselben, Ruschdi der Großvezier, 
Midhat das Haupt der Reformer und Hussain Apvni der energische 
Kriegsminister. 
Ihre Aufgabe war keine leichte. Von allen Seiten starrten 
ihnen und dem Reiche die schwersten Gefahren entgegen, von innen 
wie von außen. Es läßt sich nicht leugnen, daß sie denselben sofort 
einmüthig und energisch entgegen zu treten versuchten. Nach Bul- 
garien wurden ohne Verzug alle nur irgendwie verfügbaren Truppen 
geworfen, um den Aufstand, die augenblicklich unzweifelhaft größte 
und dringenste Gefahr, rasch und um jeden Preis zu unterdrücken. 
Dem Berliner Memorandum Gortschakoffs gegenüber aber, das indeß 
der Pforte noch nicht übergeben, dessen Inhalt aber bekannt geworden 
war, erklärte der große Ministerrath schon am 23. Mai, daß er
	        
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