Aebersiht der polilischen Eulwichlang bes Jahres 1876. 589
tanen auf lange hinaus eine sichere Majorität verschaffen sollte,
durchzusetzen, fand selbstverständlich nicht die Unterstützung der libe-
ralen Minorität der Kammer und ohne diese nicht die erforderliche
Zweidrittelmehrheit. Noch empfindlicher aber für die ultramontane
Partei ging ein anderer Versuch aus, eine Reihe liberaler Wahlen
in überwiegend katholischen Städten zu casffiren. Solcher Wahlen
wurden nach und nach nicht weniger als 16 und zwar aus Grün-
den, die als zureichend durchaus nicht angesehen werden konnten,
cassirt, aber bei der Neuwahl gelang es den Ultramontanen doch
nicht, auch nur einen einzigen Candidaten ihrer Richtung statt eines
Liberalen durchzubringen; die cassirten Liberalen wurden vielmehr
sämmtlich wieder gewählt und zwar fast überall mit noch größeren
Majoritäten als früher. Dieser totale Mißerfolg oder doch Nicht-
erfolg der ultramontanen Partei der Kammer hatte aber für die
Partei noch die weitere schlimme Folge, daß Spaltungen in ihr
selbst eintraten, die nach und nach zu einem förmlichen Bruch aus-
einanderklafften, indem Sigl immer rücksichtsloser gegen Jörg auf-
trat, bis er schließlich daran ging, eine entschieden „katholische"
Partei unter seiner Führung der „bayerisch-patriotischen“ Jörgs
entgegen zu setzen. Inzwischen ist es im höchsten Grade unwahr-
scheinlich, daß es dieser neuen extrematisch-katholischen „Volks-
partei“ jemals gelingen werde, das Ruder in Bayern in ihre Hände
zu bekommen.
Die Aussichten der ultramontanen Partei in Deutschland sind Frank-
überhaupt sehr trübe, so lange das neue deutsche Reich aufrecht vich.
bleibt; daß es ihr aber ohne einen allgemeinen Umsturz gelingen
könnte, dieses wieder über den Haufen zu werfen, daran ist wahrlich
nicht zu denken. Eine wesentlich andere ist dagegen ihre Stellung
in Frankreich. Nach langen Schwankungen zwischen der republikani-
schen und den vereinigten monarchischen Parteien war Frankreich
im Jahre 1875 dahin gelangt, die seit 1871 thatsächlich bestehende
republikanische als die definitive Staatsform des Landes anerkannt
zu sehen. Das Land konnte doch nicht ewig in einem Provisorium
verbleiben und nachdem der einzige ernsthafte Versuch, die Monarchie
unter dem Scepter des legitimistischen Prätendenten, des Grafen
von Chambord, wieder herzustellen, von diesem felber zu Fall ge-
bracht worden war, blieb nichts anders übrig, als sich mit den that-
sächlichen Zuständen auszusöhnen und die Republik zu einer defini-
tiven zu machen oder aber den Bonapartismus wieder Fuß fassen