Das deutsche Reich und seine einelnen Glieder. (Juni 21 -24) 101
jenes Neubulgariens soll als Ostrumelien unabhängig von Ruß-
land organisirt und die Türkei wenigstens südlich des Balkans
als lebensfähige Macht conservirt werden. Dafür werden Rußland
vom Congresse zwei überaus wichtige Concessionen gemacht: einmal
nämlich sollen die sämmtlichen Donaufestungen zwar geschleift, aber
auch sämmtlich, also einschließlich Varna's, dem neuen Fürstenthum
Bulgarien überantwortet werden, und dann wird demselben auch
Sofia zugetheilt, von wo aus der Balkan leicht umgangen wer-
den kann. Rußland gibt auf den Nath und Antrieb Schuwalow's
nach; Gortschakoff ist dagegen mit diesen Concessionen gar nicht
einverstanden.
Inzwischen fällt ein durchaus unabhängiges und unbefangenes
Blatt, das „Journal des Debats“, über die Abmachungen des Con-
gresses bez. Bulgariens ein geradezu vernichtendes Urtheil:
„Bulgarien, sagt man uns, wird nicht über den Balkan hinüber-
reichen — erstes Zugeständniß. Der Balkan wird die Vertheidigungslinie der
Türkei und eine mächtige Schranke gegen die Nussen auf der Straße nach
Konstantinopel sein — zweites Zugeständnis. Das südliche Bulgarien er-
hält den Namen Osl-Rumelien: es soll allerdings vollständige administrative
Antonomie besitzen; aber da es unter der Herrschaft des Sxultans bleibt,
wird die Kohäsion des türkischen Reiches gewahrt sein — drittes Zugeständ-
niß. Die Türkei behält in Numelien die Militärgewalt — viertes und
letztes Zugeständniß. Man muß in der That anerkennen, daß Rußland in
diesen vier Punlten nachgegeben hat; aber Rußland hat nur im Prinzip
nachgegeben, was nach dem Aus spruch des Herrn v. Bismarck so viel be-
deute ob es gar nicht nachgegeben hätte, und wir werden zeigen, daß
auch boialen der Saßb des Herrn v. Bismarck sich trefflich bewährt. Wenn
Bulgarien bis zum Baltkan reicht, wird es in seinen Grenzen ein unabhäu-
giges Fürstenthum bilden, welches zweimal größer ist, als Serbien, aber,
wie dieses, eine vollständige Regierung und eine nationale Armee besitzt, welche
in den Händen der Russen bleiben werden, einfach weil die Bulgaren in mili-
tärischer und politischer Hinsicht ganz Null sind und sich also der Vormund-
schaft ihres mächtigen Nachbars nicht entziehen können. Die Offiziere der
Armce, die Verwaltungsbeamten der Distrikte, die Mitglieder der Central=
gewalt werden, wenn nicht von Geburt, so doch von Gesinnung Russen sein,
und so wird Mulgarien die Zitadelle Nußlands auf der Halbinsel werden.
Bulgarien wird auf die Südprovinz, das sogenannte Ofl-Rumelien, ein-
wirken, wie Serbien auf Bosnien und die Herzegowina eingewirkt hat.
Jedermann weiß heute, daß die Aufstände in der Hergowina und in Bos-
nien hauptsächlich das Werk Serbiens gewesen sind. Das. Fürstenthum Bul-
garien wird leicht ähuliche Anlässe finden, um sich in die Angelegenheiten
Ost-Rumeliens einzumischen, zumal diese letteren, Dank den vom Congreß
angenommenen Pläuen sich herzlich schlecht gestalten werden. Aber, wird
man einwenden, wie sollen denn die Bulgaren und Russen die Balkanlinie
übersteigen, jene Vertheidigungslinie, welche der besondere Triunph der eng-
lischen Diplomatie ist? Man wird uns gestatten, auf diese Linie in der
That nicht zu viel Werih zu legen. Um wirklich ekwas zu bedeulen, müßte
sie Varna und Sofia mitumfassen, d. i. die beiden Straßen, durch welche