Das deutsche Reich und seine rinzelnen Glieder. (Juli 30.) 125
Wie man annimmt, zählen je bt die Nationglliberalen mit der Gruppe
Löwe und den befreundeten „MWilden“ doch 113, das Centrum mit Welfen
und velsöiüüschen Klerikalen o8, die Conservativen ca 60, die Freiconserva-
ie. Fortschrittspartei etwa 25, die Polen 13, die Sozialdemo-
gien, 9n * rotestfran bofen 6, die elsässischen Autonomisten 3, die füd-
deutschen Demokraten 3, 12 Dänen 1 Mandat. Genau zählen läßt sich nicht;
einige Mandatsinhaber sind von unbestimmter Farbe.
Es ist also der Regierung keineswegs gelungen, ihre Stellung zur
Volksvertretung zu sichern und zu festigen, denn obgleich sich die Zahl der
Mitglieder beider conservativen Fraktionen nicht unerheblich vergrößert hat
(indem sie von 78 auf 110 gestiegen ist), so muß man doch andererseits be-
denken, daß sowohl mehrere Mitglieder der deutschconservativen Fraktion keines-
wegs als nunbedingte Anhänger der Regierung bereichet werden können, als
auch, daß die Männer der „Oppo osition auf alle Fälle“ nicht in verminderter,
sondern in verstärkter Anzahl in den Reichstag Hälle# mche sind. Die offi-
ciöse preußische Presse hat während der Wahlbewegung den Kampf mit weit
größerem Eifer gegen die Fortschrittsparlei und die Nationalliberalen geführt,
als gegen die reichsfeindlichen Elemente der Ultramontanen, Polen und Sozial=
demokraten. Wie oft ist dem Volke vorgepredigt worden, die Fortschritts-
partei habe kein Anrecht auf den Namen einer Ordmungspartei, und es seia
gang gleichgültig, ob ein Anhänger derselben oder ein Sozialdemokrat in den
Reichstag gewählt würde, die Nationalliberalen aber hätten durch ihr mit
dem Fortschritt abgeschlossenes Wahlbündniß — das übrigens keineswegs in
der behaupteten Weise bestanden hat — sich ebenfalls einer indirecten Unter-
stützung der Sozialdemokratie schuldig gemacht. Es konnte freilich nicht aus-
bleiben, daß solche Anschuldigungen bei der Landbevölkerung, welche sie zu
prüfen und ihre innere Hohlheit zu erkennen nicht im Stande war, den
freisinnigen Parteien Nachtheil bringen mußlen und gebracht haben, zumal
letztere es in manchen Wahlkreisen an der nöthigen Negsamkeit der conser-
vativen Agitation gegenüber haben fehlen lassen. Die Fortschrittspartei
hat so bei den letzten Wahlen einen Verlust von 10 Sipen zu verzeichnen
und wird nur mit 25 Mitgliedern in den Neichslag eintreten; die national-
liberale Fraktion ihrerseits ist von 120 Mitgliedern auf 97 gesunken,
wenn auch zu bemerken ist, daß möglicherweise von den jebzt noch als „wild“
bezeichneten Abgeordneten einige später den Nationalliberalen, wenn auch nur
als Hospitanten, beitreten werden. Der Verlust, den die Liberalen erlitten
haben, entsällt vorzugsweise auf den Norden Deutschlands, insbesondere auf
Preußen, Pommern, Mecklenburg und Hannover. In den drei erstgenannten
Ländern wurden die früheren liberalen Vertreler durch Conservative, in
Hannover durch ultramontan-welfische Particularisten verdrängt. Diese letzte
Thatsache ist vielleicht die bedauerlichste des gangen Wahlkampfes und ist
weit bedentungsvoller als der geringfügige Sieg, den die Hrdnungehartein
über die Sozlaldemokratie errungen haben, indem sie ihr drei Sitze a
nahmen. Die Zahl der abgegebenen sozialdemokratischen Stimmen übersteigt
die vom Jahre 1877 um mehrere Hunderttaufende, und gewiß liegt darin
ein sehr bedenklicher Fingerzeig für die Zukunft. Neben diesem Anwachsen
der sozialistischen Stimmen zeigt sich, wie gesagt, eine nicht minder gefähr=
liche Verslärkung der particularistischen. Kann man doch nicht ohne
Grund auch den Sieg der Gonservativen in Preußen und Pommern als einen
Erfolg des spezifisch preußischen Particularismus begzeichnen. In Hannover
erhebt das Welfenthum, verbündet mit dem Ultramontanismus, kühner wie
je sein Haupt, und es ist gewiß eine überans beklagenswerthe Wahrheit, daß
in mehreren Wahlkreisen Conservative durch Aufstellung ganz aussichtsloser
Candidaturen den Anhängern des „Königs Ernst August“ zum Siege ver-