Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

112 Dos deulsche Reich und seiur rinzeluen Glieder. (Sept. 18.—19.) 
Sogzialistengesetz wesentlich von seinem Standpunkt der evangelischen Ortho-= 
doxie aus. v. Kardorff (frei-conservativ, für): spricht in wenigen Worten die 
Bereitwilligkeit seiner Partei (der deutschen Reichspartei) aus, mit den Na- 
tionalliberalen in eine eventuelle Amendirung des Gejebes einzutreten. Er 
zeigte aber im Vorans an, daß für seine Partei der Grenzwunlt der Ab- 
änderungen da liege, wo das Gesetz Gefahr lansen würde, seine Wirksamkeit 
einzubüßen. Dollfus (elsässische Prolestparkei): erklärt sich als Gegner des 
Gesebes und empfiehlt das Elsaß als Vorbild bezüglich des Verhältnisses 
zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Jnzewski (Pole): erklärt sich 
gegen die Vorlage, obwohl er die Verderblichkeit der sozialdemolratischen 
Agitation anerkennt. Schließlich wird die Vorlage mit großer, fast an 
Einstimmigkeil grenzender Mehrheit an eine Commission von 21 Mitlgliedern 
gewiesen; nur die Sozialdemolraten und die Polen stimmen dagegen 
Wahrend der Sitzung hat der Reichekanzler mit Bennigsen eine 
Unterredung, über die Niemand in der Lage ist, authentische Mittheilung zu 
machen, die aber offenbar nicht ohne Bedentung ist. Wenigstens zeigt man sich 
nachgerade in nationalliberalen Kreisen wesentlich bernhigt über die Stkellung des 
Neichskanglere zu dem Sozialistengesetz und hält sich für überzeugt, daß die Bun- 
desrathsvorlage Gegenstand der Vereinbarung, nicht der Annahme oder Ab- 
lehnung sein werde. In diesem Sinne wird auch die Erklarung des Reichs- 
kanglers ausgesaßt: er habe nicht die Absicht, sich an der ersten Lesung über 
die Vorlage sachlich zu betheiligen; er müsse sich nach längerer Abwesenheit 
zunächst orientiren. Es ist demnach auch nicht Unwohlsein, welches den 
Neichskanzler verhindert, sich an den Verathungen in der Commission zu be- 
tbeiligen. Die Unterredung hat indessen auch noch eine andere Bedentung; 
sie ist die erste seit dem Schluß der letzten Session und der Auflösung des 
Reichstags und offenbar bestimmt, die Beziehungen des Neichskanzlers zu der 
nalionalliberalen Partei wieder in dem Sinne herzustellen, in dem sie vor 
der Varziner Reise des Herrn v. Bennigsen in den Weihnachtstagen des 
vorigen Jahres bestanden. Damit hat denn diese Episode ihren Abschluß 
erhalten. Die nationalliberale Partei aber scheint ihrerseits auf die Politik 
der Verstimmung verzichtet zu haben. 
18. Seplember. (Deutsches Neich.) Reichstag: die Abthei- 
lungen wählen die Commission für die Sozialisten-Vorlage. Der 
sog. Seniorenconvent einigte sich dahin, daß die 3 großen Gruppen 
je 6, der Fortschritt 2 und die kleinen Fraktionen zusammen 1 Mit- 
glied zu bezeichnen hätten. Es wird gewünscht, daß als dieses Mit- 
glied der Sozialdemokrat Bebel bezeichnet und gewählt werde. Die 
Conservativen bringen es jedoch schließlich dahin, daß statt Bebel 
der nationalliberale, aber in seiner Partei gegen Lasker unterlegene 
Prof. Gneist gewählt wird, so daß also in der Commission kein So- 
zialdemokrat sitzt. Die Commission beginnt sofort ihre Verathungen. 
19. September. (Neuß ä. L.) Bei den Neuwahlen zum 
Landtage unterliegen die Liberalen, welche in der Ausführung der 
deutschen Gerichtsorganisalion dem ungesunden Partikularismus, der 
für den Duodezslaat durchaus ein eigenes Landgericht haben will, 
widerstreben, einer offen ausgesprochenen Coalition der Sozialdemo- 
kraten und der Conservativen.
	        
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