Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

160 Dos beuische Reich und seinr einzelnen Glieder. (Oct. 9—10.) 
Schriften als Glaubensgesehe bezeichnet. Eine allgemeine Gefahr droht von 
der bevorstehenden Generalsynode, durch welche die bisherige kirchliche Ver- 
waltungspraxis zum Gesetz erhoben werden soll. Aus der Generalsynode 
hat man die Mitglieder des Protestantenvereins ganz fern zu halten gewußt; 
man hat erklärt: man wolle deren Stimme dort nicht zum Gehör gelangen 
lassen, ja man fürchte sie sogaor. Wenn wir solche Bestrebungen planmäßig 
auftreten sehen, dann müssen wir mit allen Mitteln dagegen auftreten und 
warnen vor der drohenden Gefahr. Aber wir haben nicht bloß im allge- 
meinen protestiren, sondern bestimmt aussprechen wollen, welche Grundsätze 
zur Wahrung der Gemeindefreiheit unerläßlich sind. 2 Diese Grundsätze sollen 
nun wieder ausgesprochen werden. Redner führt ans, daß in den Thesen 
der biblische Grund und der Grund der Reformation jesigesteutt sei. Daraus 
folge, daß wir nicht dem Zndependentiemns huldigen. Aber im ursprüng- 
lichen Evangelium liegt Schutz und Verwahrung gegen die scharfsinnigen 
Versuche der Theologen in dogmatischen Formeln zu definiren. Das Gebet 
„Unser Bater“ ist das rechte einzige Betenntniß. Das gemeinsame Band des 
Evangeliums soll uus zusammenhalten; wir wollen nicht die Kirche in freie 
Gemeinden auflösen. Ebenso muß Einspruch erhoben werden gegen die Ver 
wechselung des Evangeliums mit der Vibel. Das ist ein Abfall von ver 
Reformation und eine Mistachtung des Weges, welchen Goltes Vorsehung 
unsere evangelische Kirche geführt hat. Luther hat Kritit geübl an den bib— 
lischen Büchern; Melanchthon hat unermüdlich an seiner Lehrdarstellung ge- 
bessert, sowohl an der Auss zburgischen Confession als sonst in der Auffassung 
des Goltesbegriffes. Die Bekenntnuißschriften waren zu ihrer Zeil epoche- 
machend, sind aber nicht Normen; über ihnen steht das Evangelinm selbst. 
Das Kircheuregiment hat nach dem Evangelium nur der Geist Gottes, nicht 
Papst oder Bischof. Wir Aauben an diesen Geist Gottes, der im innersten 
Leben der Kirche waltet. Die Lehrordnung gebührt der Gesammigemeinde, 
nicht einer einzelnen Gemeinde. In unserer Landeskirche gibt es noch gar 
eine Lehrordnung, wie Präsident Herrmann selbst zugestanden hat. Durch 
die Union ist der bisherige Zustand beseitigt, und festgestellt worden, daß die 
Geistlichen weder auf die Concordien-Formel noch auf die Augsburgische 
Confession zu verpflichten seien, sondern nur auf den Conseus der Lehr- 
meinuungen. Bei Erlassung der Kirchen- Agende wurde dieß mehrmals aus- 
drücklich anerlannt. Redner selbst ist bei seiner Ordination durch Bischof 
Neander, einen der Gründer der Union, darauf verwiesen worden, daß die 
Wetenmtnisse leine juristiiche, sondern nur moralische Kraft haben; er solle. 
das MWort Gottes lehren wie dasjelbe in der heiligen Schrift enthalten sei. 
Die Barbsinen auf die Bekenntnißschriften ist also eine Neuerung. In 
dem Kalthoff'schen Fall ist sogar ausgesprochen worden: daß der Geistliche 
auf die heilige Schrift, die drei alten Belenntnisse und die Augsburgische 
Confession verpflichtet sei, obwohl der lekzteren die Geltung in der Union 
ausdrücklich aberkannt worden ist. Wollte man einmal lirchenregimentlich 
über die Lehre entscheiden, so müßte man auf das Wort Gottes selbst zurück- 
greisen. Jener Willlür und Verwirrung muß ein Ende gemacht werden 
durch den Beschluß einer Generalsynvde, welche vor Trübungen deschützt ist. 
Keine Synode darf antichriden, was Wahrheit und was Irrthum ist. Im 
geschichtlichen Verlauf waren Landesjürsten und Obrigkeiten in Lehrfragen 
eben so absolut wie in politischen Dingen. Daß dieß heutzutage nicht mehr 
zulässig, darüber herrscht allgemeine Uebereinstimmung. Die weiteste Meinung 
Leht nun dahin: daß, wenn die Gemeinde mit dem Geistllichen einverstanden, 
niemand darein zu reden hat, möge letterer auch lehren was er wolle. In der 
Vorberalhung ist dieß aber verworfen worden, weil der Verein erklärtermaßen 
auf dem Boden der Landeskirchen sicht und weil zur Ausübung der Aussicht
	        
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