188 Das dentsche Reich und seine einjelnen Glieder. (Nov. 28.)
Der Verlauf der Debatte befriedigt die Parteien insofern nicht ganz,
als man erwarlet hatte, daß die Regierung endlich das von ihren Organen
so lange in Aussicht gestellte Steuerreformprogramm klar und unzweidentig
darlegen werde. Alles, was man erfährt, ist indeß wieder nur das Alte:
man bedürfe einer Vermehrung der Einnahmen; andererseits sei eine Er-
leichterung der Communen nothwendig; Hülfe aber sei ausschließlich beim
Reiche, auf dem Gebiete der indirecten Steuern zu finden. Eine nähere
Erörterung des Wie dieser Reform vermeidet die Regierung abermals durch-
aus. Auch über die constitutionellen Vorbedingungen fällt von dieser Seite
kein bestimmtes Wort, obschon die nationalliberale Partei ihrerseits längst,
schon seit den Besprechungen in Varzin, die in den vorjährigen Weihnachts-
tagen stattjanden, keinen Zweifel darüber gelassen hatte, daß sie die Erfüllung
dieser Bedingungen in Preußen als die entscheidende Vorfrage der ganzen
Neform betrachte. Dennoch ist die Budgetdebatte gerade in Bezug auf diese
Frage vielleicht doch nicht so erfolglos, wie es auf den ersten Blick scheinen
könnte. Namentlich erscheint es als ein nicht unwesentlicher Gewinn, daß
Juhalt und Tragweite der Forderung „constikntioneller Garantieen“ eimal
genau hingestellt sind. Man hat aus dieser Forderung besonders in der
letzten WMahlbewegung eine Angriffswasse gegen die nationalliberale Partei
zu schmieden gesucht. Nicht allein ein Zeichen des „unverbesserlichen Toc-
trinarismus“ der Nationalliberaten sollte sie sein, sondern mehr noch sollten
sich in ihr die „parlamentarischen Machtgelüste“ auf Kosten der Rechte
der RKrone geltend machen. Die Abgeordneten Lasler und Rickert weisen jenzt
diesen Vorwurf mit größtem Nachdruck Zurück. Es wird vielmehr jeßt
amthentisch erllärt, daß an die Beseitigung der Bestimmung in Art. 109 der
Verfassung, nach welcher die bestehenden Steuern und Abgaben forterhoben
werden, gar nicht gedacht wird. Alles, was man für Preußen ver-
langt, ist die Einführung „beweglicher directer Steuern“ oder,
wie es der Abg. Nickert gang correct bezeichnet, ldie Quotisi-
rung der Classen- und Einkommenstener. Art. 109 der Hreußi-
schen Verjassung wird daneben ganz unangefochten fortbestehen. Dagegen
weist Lasker gerade aus der gegenwärtigen Finanzlage heraus überzeugend
nach, wie nur in der Einführung eines derartigen beweglichen Elements in
den Staatshaushalt ein Correctiv gegen die bedeutenden Schwankungen der
Einnahmen aus dem eigenen Vermögen des Staates, bezw. aus den vom
Reiche zu erwartenden Ueberschüssen zu finden und deßhalb in ihr ein drin-
geudes Erforderniß einer geordneten Finanzverwaltung zu erblicken sei.
28. November. (Preußen.) Die Regierung verhängt, nach-
dem der Bundesrath ihren dießfälligen Antrag genehmigt hat, auf
Grund des Sogialistengefetzes den sog. kleinen Belagerungszustand
über Berlin. Die dießsällige „Bekanntmachung“ lautet:
„Auf Grund des § 28 des Gesetzes Le bie, gemeingefährlichen Be-
.Ne der Sozialdemokratie vom 21. October d. J. (Meichs- Gefehblatt
S. 351) wird mit Genehmigung bes WMunderrath“ für die Dauer Eines
Jahres angeordnet, was folgt: Personen, von denen eine Gefährdung
der öffenklichen Sicherheit oder“ #ee zu besorgen ist, kann der Auf-
enthalt in dem die Stadt Berlin, die Stadtkreise Charlottenburg und Pots-
dam und die Kreise Teltow, Nieder- Barnim und Ost-Havelland umfassenden
Bezirke für den ganzen Umfang desselben von der Landespolizeibehörde ver-
sagt werden. § 2. In der Stadt Berlin und den Stadtkreisen Charlotten=
burg und Potsdam sind das Tragen von Stosz-, Hieb= oder Schußwaffen
sowie der Besitz, das Tragen, die Einführung und der Verkauf von Spreng-