Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

Tie Oelterreichisch-Angarische Monarchie. (Juni 30.) 235 
30. Juni. (Ungarn.) Schluß des Neichstags durch eine 
Thronrede des Königs, worauf demnächst die allgemeinen Erneue- 
rungswahlen folgen sollen. 
Den weitans größten Theil der Thätigkeit des Reichstags hat die 
Ausgleichsfrage in Auspruch genommen; diese war es auch, die eine neue 
Parteibilhung herbeigeführt. Die Ungarn müssen zugeben, daß der Ausgleich 
nicht so schlimm ausgefallen, als man einst befürchtet, daß er aussallen 
könnte, und als man von Seite der Opposition ausgibt, daß er wirklich aus- 
gefallen sei; aber andrerseits muß man auch erkennen, daß der Ansgleich 
ein solcher ist, wie ihn die Deal-Parlei gewünscht und geschlosen haben 
würde, wäre sie am Ruder geblieben. Die Uebereinkunft mit der National- 
bank lag stets in ihrem Plan, deßgleichen daß der Onotensatz, wie derselbe 
1867 slipnlirt worden, beibehalten werde; nur in der Frage der Einfuhr= 
hölle hätte sie nie so sehr nachgegeben, wie es Tisza und seine Partei gethan. 
Die Thätigkeit Tisza's, bezüglich alles dessen. was den Ausgleich betraf, 
war einmal eine unfruchlbare, dann eine geradezu verwirrende. Er ist, als 
er ans Nuder gelommen, mit einem neuen Programm und neuen Forderungen 
aufgetreten, hat das Zollbündniß gekündigt, hat der Nationelbank den Krieg 
erklärt, die längste Zeit eine unabhängige ungarische Bank zu gründen be- 
absichtigt, um schließlich Schritt für Schritt zurückzuweichen und dort an- 
zukommen, wo die von ihm gestürgte Deat-Partei gestanden; ja, noch weiker 
mete er surückweichen. da er die Verhandlungen mit wenig Geschick geführt 
bat, sich stets in die Enge treiben ließ, so daß er selbst in der Frage der 
80-Millionen= Buthuld schließlich seinen Standpunkt verlängnen und nach- 
geben mußte. Man kann sagen, daß der Reichstag selbst in der Aus gleichs- 
frage sich klüger benommen als die Regierung; die Mehrheit desselben war 
slels bereit Tisza zu folgen; aber es war nicht die Partei des linken Cen- 
trums, seine einstige Partei, die ihm folgte. sondern die ehemalige Deak- 
Parkei war es, mit deren Hülfe er den Ausgleich durchbrachte, nachdem er 
sich mit einer selbst bei modernen Staatsmännern jelten dagewesenen Versa- 
bilität zu ihren Grundsägzen bekehrt. Solch' eine radicale Schwenkung voll- 
führte # er auch in der orientalischen Frage, wo er nach und nach ganz 
eines Sinnes wurde mit dem Aus wärtigen Amt, nachdem er als entschic 
dener Geguer Rußlands begonnen. Der Reichstag aber ließ sich fortwährend 
von Ti## hinhalten, so daß es nie zu einem entschiedenen Botum des Par- 
laments kam. Jeht, wo der Reichstag geschlossen worden, wird die von ihm 
stets perhorrescirte Occupation Bosniens in Scene gesetzt, und gezeigt, was man 
in Wien eigentlich unter der ihm stels vorgehaltenen „Wahrung der eigenen 
Interessen“ versteht, das ist etwas ganz anderes, als was Parlament und 
öffentliche Meinung in Ungarn darunter verstanden. Tisza hat der aus 
wärtigen Politik Andrassy's die Stange gehalten, und auch glücklich bewirk. 
daß dieselbe zum mindesten nicht offen mißbilligt wurde; dafür hat sich An- 
drassy wieder stets für Tis# eingesetzt und ihn in seiner Position erhalten. 
Auch die Delegation hat Tisza so“ zusammenzusezen gewußt, daß die große 
Mehrheit derselben aus seinen unbedingten Anhängern bestand; dort wurde 
daun die Orient-Politik Andrassy's gera dezu gebilligt und sanctionirt. Heute 
sagen sie wohl, die Interessen der Monarchie verlanglen mehr als bloß die 
Annerion Bosniens und der Hersegowina, und die Unterstützung der Re- 
gierungspartei sei nicht in diesem Sinne und nicht zu diesem Zweck gewährt 
worden; man wird ihnen aber einmal später erklären, daß in den leitenden 
Kreisen' niemand und niemals an mehr gedacht, und daß ein Mehr über- 
haupt nicht möglich gewesen.
	        
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