Die Oesterreichisch Angarische Monarchie. (Nov. 4.—5.) 255
vernehmen war, in überstürzter Eile uns über die wichtigste Frage des Tages
aussprechen. Die Orientfrage ist keine neue Frage. Sie nimmt seit Gene-
rationen die ernsteste Aufmerlsamkeit der öslerreichischen Staatsmänner in
Anspruch. Welche sind nun die Hauptziele, die unsere Politik im Orient
verfolgt hat: Man cerhält darauf gewöhnlich eine jehr oberflächliche Ant-
wort. Man sagt: „Die Aufrechthaltung der Türkei.“ ja bis in die letztere
Zeit sogar: „Die Aufrechthaltung der Integrität der Türkei.“ Dieß ist aber
ganz unrichtig. Allerdings hat unsere Diplomatie feit Beginn dieses Jahr-
hunderts in diesem Sinne gearbeitet. Aber die (Aufrechthaltung der Türkeie
oder gar ihrer Integrität war nie und konnte nie der Zweck unserer Orient-
Politik sein. Sie war nur das Mittel, um uns den ruhigen Besitz unserer
südöstlichen Provinzen zu sichern. Dieses Ziel der österreichischen Orient-
Politik muß heute noch das gleiche sein. Die Mittel zur Erreichung dieses
Zieles jedoch müssen sich ändern, wenn sich die Zeitumstände verändert haben.
Seit 50 Jahren, seit dem Frieden von Adrianopel, lebt die Türkei nur noch
durch die Uebereinstimmung aller Mächte Europa's. Dieses Scheinleben müßte in
dem Augenblick aushören, wo die Einstimmigkeit in dem Willen der Groß-
mächte aujhörte. Der Verliner Vertrag bat die Türkei aus der Reihe der
enropäischen Staaten gestrichen. Was heule noch Türkei heißt, ist nur der
noch unvertheilte Rest der türkischen gruse,nnsd und Masseverwalter dieser
Erbschaft ist der Sultan. Im weiteren Verlaufe seiner Nede macht Graf
Hohenwart die Verfassungspartei und besonders den Budgelausschuß dafür
verantwortlich, wenn heute Oesterreich wirklich außer Stande sein sollte, als
Großmacht aufzutreten. Unsere Orienl-Politik habe darin gefehlt, daß sie
dasjenige, was Oesterreich thun mußte, im unklaren Mandatsverhällnisse zu
Europa unternahm. Heute aber müsse auf jeden Fall die Orcupation eine
dauernde bleiben. Für die Fehler unserer äußeren Politik macht der Redner
die innere Politik verantwortlich und schließt unter dem stürmischen Beifall
seiner Partei damit, daß er den Föderalismus als Mittel proclamirt, um
aus der gegenwärtigen mißlichen Situation des Staates herauszukommen.
Schaup (Verfassungspartei): Wenn ein Parlament, ohne durch eine Thron=
rede dazu aufgefordert zu sein, eine Adresse beschließt, welche über den
Nahmen einer Loyalitätskundgebung hinausgeht, so setzt dieß eine eruste
Beurtheilung der Lage voraus. Nun, die Lage ist wirklich eine sehr ernste.
Wenn man, wie ich, noch während der letzten Delegationsverhandlungen die
Politik des- Grafen Andrassy unterstützt und gebiuuigt. hat, wenn man auch
noch bei seinem Schritt, der die Dinge in der Türkei richtig erlannte, daß
er namentlich dem ungestümen Drängen seiner Landsleute, unbedingt für die
Integrität der Türkei einzutreten, Widerstand geleistet hat, dann hal man
die Pflicht, die nunmehr gegentheilige Ansicht zu rechtfertigen. Ich erleune
es ferner als ein Verdienst des Grafen Andrassy an, daß er — von dieser
Ansicht ausgehend — zu der lUeberzeugung kam, daß ene Völkerschaften,
welche unmittelbar an unserer Grenze leben, freundschaftlicher und wohl-
wollender behandelt werden müssen: ich erkenne es endlich als ein Verdienst
des Grafen Andrassy an, daß er, ungeachtet die Verhältnisse sehr schwierig
waren und der Kampf jahrelang an unserer Grenze tobte, uns dennoch Opfer
an Geld und Menschenleben ersparte. Ich bin kein Anhänger der unbeding-
ten Passivitätspolitik; ich glaube nicht, daß ein Staat wie Oesterreich gleich=
gültig zusehen kann, welchen Verlauf die Dinge in den Nachbarläudern
nehmen. Wenn man sagt: wir müssen uns zuerst sammeln, so antworte ich:
die Ereignisse fragen nicht, ob der Zeitpuntt bei vielen Mitgliedern des
Haujes als der erste Schritt zu der gegenwärtig eingeschlagenen Nichtung
mitgewirkt hat; dann ist es nicht bloß ein Recht, sondern geradezu eine
Pflicht, die nunmehr andersgewordene Anschauung zu rechtfertigen. Sie