Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

354 Frankreich. (März 10.) 
als ziemlich schwach, jedenfalls nicht geeignet für erregte und lebhafte par- 
lamentarische Debatten; seine Ausdrucweise ist frei, ungenvungen, gewählt 
und getragen von jener Sicherheit, welche die vollständige Beherrschung des 
Stoffes dem Redner verleiht. Sein ganzes Auftreten ist ein entschieden 
sympathisches und angenehmes, und dieser Eindruck wird noch gesteigert durch 
ein sich unwillkürlich von jelbst geltend machendes Gefühl, daß man sich hier 
einem Mann gegenüber befinde, der weiß, was er will, und einer Persön= 
lichleit, in deren Kopf Ideen und Pläne reifen, welche nicht nach gewöhn- 
lichem schablonenhaften Maßstabe zu bemessen sind. Nach wenigen einleiten- 
den Worten geht der Minister gleich meslias in res und beleuchtet in mehr- 
stündigem lichtvollen Vortrag alle Seiten der Frage. In kurzen Zügen gibt 
er eine historische Darstellung dieser Bahnen und ihrer Wichtigkeit für das 
allgemeine Interesse, dabei auch in discreter Weise die stralegische Bedeutung 
belonend, woran er dann die weitere Frage über die Angemessenheit des sti- 
pulirten Kaufpreises schließt. Hiebei weist der Minister zugleich als mit 
der moralischen Würde des Staats unvereinbar den Einwand zurück: warum 
dieser nicht die Faillite jener Bahnen abwarte und dann zur Uebernahme 
derselben von den drakonischen Vorrechten Gebrauch mache, die ihm alte ge- 
setzliche Bestimmungen einräumten? Dies ist einer der Hauptpuncte in der 
Argumentation der Gegner, welche in den Vorlagen eine ungerechtfertigte 
Belastung des Budgets erblicken oder, wie Hr. Nouher, gerade#n auf eine 
darin enthaltene Gesehesverletzung hindeuten. In Betreff des ferneren An- 
taufs anderer Eisenbahnlinien, die sich in ähnlicher Lage befinden und deren 
Rücktauf durch den Staat Nouher als eine nothwendige zwingende Folge 
dieses ersten Schrittes darstellt, spricht der Minister seine Ansicht dahin aus: 
daß in jedem einzelnen Falle die Bedeulung der Vahn für das allgemeine 
staatliche Interesse der maßgebende und durchschlagende Grundsahz sein müsse. 
Dieß führt ihn dann auf die Cardinalfrage; ob Staatseisenbahnen, ob Pri- 
vatbahngesellschaften: Hr. de Freycinet legte in dieser Hinsicht seinen Aus- 
führungen eine gewisse Reserve auf. Wenn er sich gleich unzgweideutig als 
Anhänger des ersteren Systems bekennt, so nöthigt ihn doch eine kluge Rück- 
sichtnahme auf den mächtigen Einflußt der großen frangösischen Eisenbahn- 
compagnien und auf die ihm nicht unbekannten günstigen Dieposilionen auch 
eines Theils der Republikaner für die letzteren, nicht bloß zu anerkennenden 
Bemerkungen über diese monopolisirten Gesellschaften, sondern selbst zu dem 
Geständniß: es solle vorerst die Verwaltung der angelauften Bahnen nur 
eine provisorische und versuchseise sein, ohne damit der späteren Entschei- 
dung über die Sache selbst, über das leitende Prineip der zu befolgenden 
allgemeinen Eisenbaupolddt. zu präjudiciren. Der letzte Theil der Rede des 
Ministers gilt dem Zusammenhang des in Berathung stehenden Gesetzes mit 
den projeckirten Neubanten zur Vervollständigung des französischen Eisen- 
bahnnehes, diesen vom Land und von der Industrie mil so großen Hoff- 
nungen und Erwartungen begrüßten Arbeiten: Eins stehe und falle mit 
dem anderen. Eine jede Vertagung oder Ververfung des heutigen Entwurfs 
müsse und werde deßhalb das Vertrauen im Land und den Aufschwung der 
Geschäfte auf das schwerste treffen; die Widersacher seiner Vorlagen wüßten 
solches sehr wohl, und nicht sachliche Gründe allein beseelten ihre Opposition. 
Damit hat der Minister feine Sache gewonnen; es gelingt Hru. NRouher, 
der noch einmal das Wort ergreift, nicht, die Beweisführung des Ministers 
zu erschüttern. 
10. März. Kammer: der neue Generalgzolltarif-Entwurf wird 
vertheilt. Die Regierung vertritt die Ansicht: Frankreich müsse an 
dem im Jahr 1860 eingeführten System des Freihandels festhalten.
	        
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