Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

Rußland. (Juni 1—2.) 445 
1. Juni. In Folge des Sassulitsch-Processes werden die gesetz- 
lichen Bestimmungen über die gerichtliche Zuständigkeit und das Ver- 
fahren bei Staatsverbrechen einer Aenderung unterworfen. Die 
Neuerung ist in Decreten des Dirigirenden Senats ausgesprochen, 
welche die allerhöchste Bestätigung gefunden haben. 
Das Decret, betreffend die Aburtheilung von Staalsverbrechen im 
Allgemeinen, lautet im ersten Punkte: „Processe über Staatsverbrechen com- 
petiren n) vor die Gerichtshöfe (Cweiter Instanz): wenn das Verbrechen nach 
dem Gesetze nicht eine mit Verlust oder Beschränkung der Standesrechte ver- 
bundene Strase nach sich zieht; b) vor die Gerichtshöfe in verstärltem Be- 
stande mit Hinzuziehung von Standes rrepräsentanten voder, falls hierüber ein 
allerhöchster Befehl ergeht, vor die besondere Session des Dirigirenden Senats 
mit Hinzuziehung der Standesrepräsentanten: wenn für das Verbrechen in 
dem Gesetz eine mit Verlust oder Beschränkung der Slandesrechte verbundene 
Strafe vorgesehen ist; c) vor das Oberkriminalgericht: wenn anläßlich einer 
in verschiedenen Gegenden des Reiches entdeckten allgemeinen Verschwörung 
gegen die sonveräue Gewalt oder die gesetzlich bestehende Regierungsform und 
Thronfolge-Ordunng ein alterhöchster Besehl zur Aburtheilung der Sache in 
dem genaunten Gericht ergeht.“ Die zweite Bestimmung des abzuändernden 
Vesetzes lantet: „Processe wegen Erwokdune oder versuchter Ermordung von 
Staatsbeamten, Verwundung oder Verstümmelung oder anderer gewaltthätiger 
Hamlungen, wie auch wegen ausgestoßener Drohungen gegen diejelben, wenn 
diese Verbrechen bei Ausübung von Amtepflichten seilens der Staatsbeamten 
oder in Folge der Ansübung dieser Pflichten verübt wurden und den Verlust 
oder die Beschränkung der Standesrechte involviren — werden zeitweilig wie 
diejenigen Processe behandelt, welche vor die Gerichtshöfe mit Hinzuziehung 
von Standesbeamten competiren.“ — Gleichzeitig mit der amtlichen Bekannt- 
machung vorstehender Aenderungen des Gerichtsverfahrens wird das Urtheil 
im Proceß der Wsera Saffulitsch vom Senat in feierlicher Sitzung cassirt. 
Die Cassation ist die Folge des von dem Gehülfen des Procurators des 
St. Petersburger BelurssgAcchte, Herrn Kessel, ge egen das freisprechende Ver- 
dict der Geschwornen und das urtheil jenes Gerichts erhobenen Protestes. 
Das Gesuch des Vertheidigers der Wsera Sassulitich, Herrn Alexandroff, 
die Sache seiner Elientin auch vor dem Cassationehofe fortführen zu dürfen, 
wurde von letterem abgewiesen. Dagegen beschließt das Bezirlegericht nach 
einer ziemlich langen und lebhaften Berathung nachstehende Resolution: „Der 
Dirigirende Senat verfügt: den im Proceß gegen Wjera Sassulitsch am 31. März 
(a. St.) 1878 gefällten Spruch der Geschwornen und das hierauf basirte 
Urtheil des St. Petersburger Bezirksgerichts wegen Verlebung der § 575 
und 576 der Criminalprocesordnung aufzuheben, sammt allen seinen Folgen, 
und den Proceß selbst zur neuen Verhandlung an das Bezirlsgericht zu 
Nowgorod zu verweisen.“ Daß dieses Gericht anders als das erste Tribunal 
enlscheiden werde, ist mit Sicherheit anzunehmen; für die Angetlagte ist es 
ein Glück, daß sie, wie es scheint, dem Arm der russischen Justiz nicht mehr 
erreichbar ist. 
2. Juni. Der deutsche Reichskanzler ladet die leitenden Mi- 
nister der sechs Großmächte und der Pforte auf den 13. d. M. zu 
einem Congreß in Berlin ein nach der zwischen Eugland und Ruß- 
land vereinbarten Formel. Alle entsprechen der Einladung nunmehr. 
Graf Schuwaloff, der Rußland auf dem Congreß neben dem Reichs- 
 
	        
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