Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

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502 Uebersicht der polilischen Enlwichelung des Jahres 1878. 
Feind trotz seiner numerischen Ueberlegenheit wieder über die Donan 
zurück zu werfen. Sobald aber einmal Plewna gefallen war, hatten 
die Russen das Uebergewicht bekommen und rückten die rufsischen Heere 
unaufhaltsam bis an den Balkan und über diesen hinaus vor. 
Der Sultan war schon bereit, mit sammt seinem Hofe und feiner 
Regierung seine Hauptstadt zu verlassen und sich auf die andere 
Seite des Bosporus zurück zu ziehen, da keine der europäischen 
Mächte auch nur Miene machte, ihm mit den Waffen in der Hand 
Beistand zu leisten. Aber Rußland wagte es doch nicht, selbst diesen 
kühnen Griff zu thun: nicht die Türkei, wohl aber Europa hinderte 
es daran. ç 
England Zwar einen Augenblick dachte es daran und fehr ernstlich. 
isn- Aber es besann sich doch eines Besseren: nimmermehr hätte es 
Mächte. Europa ruhig geschehen lassen können, daß es, wenn auch nur mo- 
mentan, seine Hand auf das lehztte Ziel all seines Ehrgeizes schlage. 
Und doch war es nur Eine Macht, die in diesem verhängnißvollen 
Augenblicke die Interessen von gang Europa auf ihre Schultern 
nahm und allein, mit dem vollen Bewußtsein dessen, was sie 
unternahm, der russischen Uebermacht entgegen trat und ihr ein 
energisches: bis hieher und nicht weiter! entgegenrief. Diese Macht 
war England. 
Das mächtige deutsche Reich war von Aufang an auf der 
Seite Nußlands gestanden — ohne des deutschen Reiches sicher zu 
sein, hältte Rußland das ganze Unternehmen gegen den Bestand der 
Türlei gar nicht unternehmen dürfen — und stand auch jeßzt noch 
auf seiner Seile. Die dafür viel angeführte Dankbarkeit Deutsch- 
lands für die Haltung Rußlands im deutsch-frangösischen Kriege 
von 1870,71, so werthvoll sie Deulschland auch allerdings war, fiel 
hiebei doch wohl in sehr geringem Grade ins Gewicht. Die Politik 
beruht auf Interessen und rechnet mit Interessen, nicht mit Gefühlen, 
und der denutsche Reichskanzler ist alles eher als ein sentimentaler 
Staatsmann. Immerhin aber lag das persönlich freundschaftliche 
Verhältniß zwischen dem deutschen und dem russischen Kaiser dem- 
jenigen zwischen den beiden Regierungen wesentlich zu Grunde und 
die Ueberzeugung, daß, so lange Kaiser Alexander lebe, Deutschland 
von Rußland jedenfalls nichts oder doch nicht leicht elwas zu be- 
sorgen habe. Ein directes Interesse hatte Deutschland in der orien- 
talischen Frage entschieden nicht und der deutsche Reichskanzler war 
daher vollkommen berechtigt, in der ganzen Verwickelung von der Ueber-
	        
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