Hebersicht der politischen Eulwichelung des Jahres 1878. 503
zeugung auszugehen, daß das durch und durch morsche kürkische
Staatswesen auf die Dauer in Europa doch nicht zu halten sei und
daß daher für Deutschland kein genügender Grund obwalte, dem
Plane Rußlands, diesem Staatswesen gerade jetzt unter dem Vor-
wande der Beschützung der verschiedenen slavisch-christlichen Völker-
schaften der Balkan-Halbinsel — denn daß das nur ein Vorwand
sei, darüber herrschte außerhalb Rußland felbst im übrigen Europa
in der That nur Eine Stimme — einen nenen Stoß zu versetzen,
entgegen zu treten, eher vielmehr Grund, demselben Vorschub zu leisten.
Nicht am wenigsten aber leitete dabei den dentschen Reichskanzler
ohne Zweifel die Rücksicht auf Frankreich. Zwar hat sich zwischen
Deutschland und Frankreich in den letzten Jahren ein ganz leid-
liches Verhältniß herausgebildet. Die Franzosen sind in Folge des
schweren Unglücks, das durch den Leichksinn des zweiten Kaiserreichs
über sie gekommen, offeubar in weiten Kreisen in sich gegangen und
die besten Elemente der Nation sehen gar wohl ein, daß es Zeit
und langer, ruhiger, vorsichtiger und umsichtsvoller Arbeit bedarf,
wenn sie ihr neues republikanisches Staatswesen auf festen Grund-
lagen nach außen und innen consolidiren wollen: für einmal haben
wenigstens diese Elemente alle und jede Nevanchegedanken gegenüber
dem neuen deutschen Reiche, das sich unter der starken Hand des
Fürsten Bismarck in den wenigen Jahren seines Bestehens merk-
würdig gefestigt hat, augenscheinlich entschieden bei Seite gelegt.
Sich jedoch darauf zu verlassen, wäre geradezu thöricht gegenüber
dem Nationalgeiste und dem nur zu wohl bekannten Temperamenle
der Franzosen. So sehr sie sich zur Zeit einer klugen Zurückhaltung
befleißigen und so viel Ursache sie auch dazu in der That haben,
die erlittene Demüthigung ist für sie eine brennende Wunde, die sie
nur schwer verwinden können, und die, übrigens immerhin geachtete
und mächtige Stellung, die sie im Kreise der übrigen Großmächte
wiederum einnehmen, befriedigt sie nicht, weil sie allerdings eine
leitende nicht ist und nicht sein kann. Deutschland muß daher
darauf gefaßt sein, daß Frankreich die erste günstige Lage der Dinge
in Europa benüße, um, alle bisherige Vorsicht plötzlich bei Seite
setzud und die gemäßigten Elemente, die augenblicklich die Ober-
hand haben, überwallend, seine angeblichen Fesseln abzuwerfen und
einen energischen Versuch zu machen, über Deutschland hergufallen
und seine frühere leitende Rolle wieder zu erobern. Deutschland
muß darauf um so mehr jederzeit gefaßl sein, als alle Parteien in