Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

504 Nebersichl der polilischen Enlwichelung deo Jahres 1878. 
Frankreich, so heftig und unversöhnlich sie sich auch in innern Fragen 
unter einander bekämpfen, doch ohne irgend eine Ausnahme sich in 
dem Bestreben die Hand bieten, die Militärmacht des Landes unter 
Auspannung aller Kräfte auf eine Stufe zu bringen, wo sie Deutsch- 
land nicht nur vollkommen gewachsen, sondern sogar, wenigstens an 
Zahl, überlegen wäre, und das in Wahrheit schon bisher mit einem 
Erfolge, daß deutsche Militärs bereits den Zeitpunkt berechnet haben, 
in welchem Frankreich Deutschland in der Osfensive wirklich ge- 
wachsen, in der Defensive aber und zwar in fast fabelhaftem Grade 
überlegen wäre. Von Anfang an faßten hiebei die Franzosen die 
Möglichkeit ins Auge, sich früher oder später mit Rußland zu ver- 
ständigen, um gemeinsam von links und rechts über Deutschland 
herzufallen, zumal bei aller Freundschaft zwischen ihren Herrschern 
und allem Einverständniß ihrer Negierungen national zwischen Deut- 
schen und Russen nichts weniger als eine besondere Zuneigung ob- 
waltet, im Gegentheil von Zeit zu Zeit immer wieder die unver- 
kennbaren Zeichen gründlicher Abneigung durchbrechen und sich Luft 
machen. Deutschland hatte daher beim Wiederauftauchen der orien- 
talischen Frage und hat fortwährend gegenüber Frankreich ein poli- 
lisches Interesse, mit Rußland auf gutem Fuße zu stehen und sich 
dasselbe zu verbinden, so weit es geschehen kann, ohne seine anderen 
Interessen zu beeinträchtigen. Selbstverfländlich weiß das Rußland 
so gut wie Deutschland und stützt sich daranf. Und wie Rußland 
im letzten Kriege Deutschland gegenüber Oesterreich wesentliche Dienste 
thal, so nahm es in der orientalischen Frage Deutschlands Dienste 
gegenüber demselben Oesterreich seinerseils in Anspruch. Deutschland 
gewährte ihm denn auch diese Unterstützung in vollem Maße und 
die sog. Dreikaiserallianz bildete unlängbar die wesentlichste diplo- 
matische Unterlage für das Unternehmen Rußlands gegen die Türkei, 
ohne welche dieses geradezu nicht möglich gewesen wäre. Oesterreich 
bot dazu die Hand, weil es auch seinerfeits sich der Einsicht nicht ver- 
schließen konnte, daß das türkische Reich durch die Unfähigkeit feiner 
Regenten sichtlich und unaufhaltbar seinem Verfalle wenigstens in 
Europa entgegen gehe und weil es einen großen Krieg gegen Ruß- 
land vornehmlich aus finanziellen Gründen scheute; aber da die 
orientalische Frage ganz im Gegensatze zu Deutsehland seine vitalsten 
Interessen berührt, so konnte es dieß doch nur in der vollen Ueber- 
zeugung, daß Deutschland niemals zugeben werde, daß Rußland 
diesen Interessen zu nahe trele und daß sich Millel und Wege
	        
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