Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

510 Ueberficht der politischen Entwichelung des Jahres 1878. 
lassen, Gallipoli nicht zu besetzen, da hiedurch der englischen Flotte 
die Rückkehr aus den Dardanellen abgeschnitten worden wäre. Eng- 
land und Rußland standen sich vor Constantinopel einander gegen- 
über und von einer Besetzung Constantinopels Seitens der Russen, 
anch nur von einer vorübergehenden, war keine Rede mehr. Die 
Flotte allein war indeß für Constantinopel und die großen Interessen 
Cnglands im Mittelmeer kein genügender Schutz wider die Pläne 
Rußlands, die jetzt selbst für diejenigen, welche noch immer sich durch 
die so schön klingenden Worte von Beschützung der Christen in der 
Türkei und von der rein humanen Absicht Nußlands, ihnen zu 
einem menschenwürdigen Dasein zu verhelfen, halten täuschen lassen 
oder ihre Augen mit Gewalt gegen die wahren Absichten Rußlands 
verschlossen, nicht mehr zweifelhaft sein konnten: England ging 
weiter. Sobald daher am 8. Februar das Unterhaus nach einer 
großen und denkwürdigen Debatte, die schon am 28. Januar be- 
gonnen hatte, der Regierung den von ihr geforderten Credit mit 
328 gegen bloß 124 Stimmen, also mit der unerhörten Majorität 
von mehr als 200 Stimmen, bewilligt hatte, rüstete die Regierung 
mit fast fieberhafter Cile. Zwei Expeditionscorps, jedes von 35,000 
Mann mit allem Zubehör, wurden organisirt und sofort auch schon 
Lord Napier of Magdala zu ihrem Oberbefehlshaber, mit General 
Wolseley als seinem Generalstabschef, designirt. Selbst die bisher 
constant nicht allzufreundliche Hallung Eunglands gegenüber dem 
kleinen Griechenland und seinen großen Aspirationen wurde momentan 
bei Seite gelegt. Als dieses nämlich angesichts des drohenden Zu- 
sammenbruchs der enropäischen Türkei und, um dabei auch seinen 
Theil an dem muthmaßlichen Erbe in Anspruch zu nehmen, am 
1. Februar auch seinerseits der Pforte den Krieg erklärt und seine 
Truppen in Thessalien und Epirus hatte einrücken lassen, bewog es 
zwar Eugland im Verein mit den anderen Mächten, dieselben wieder 
zurück zu ziehen, aber es versprach ihm zugleich, sich der griechischen 
Interessen aufs kräftigste angunehmen und war wenigstens augen- 
blicklich entschieden geneigt, sich im Nothfall auf die so zahlreichen 
griechischen Elemente in Macedonien und Thracien zu stützen und 
diese gegen die von Rußland beschützten flavischen Elemente als 
seine natürlichen Bundesgenossen vorguschieben. 
Unterdessen unterhandelte Rußland in St. Stefano durch den 
ebenso gewandten als verschlagenen und rücksichtslos vorgehenden 
Grafen Ignatieff mit der Pforte über die definitiven, detaillirten
	        
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