Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

520 Uebersicht der polilischen Eulwichelung des Jahrts 1878. 
absolut unhaltbar geworden. Das türkische Volk zeigt zwar, darüber 
sind die genauesten und unbefangensten Kenner der Zustände der 
Balkanhalbinsel einig, viele vortreffliche Charaktereigenschaften, und 
die Türken sind darin gerade den Slaven weit vorzuziehen und ver- 
dienen, von Race= und religiösen Sympathien abgesehen, rein mensch- 
lich vielfach entschieden unsere Theilnahme: aber einer Entwickelung, 
einer gründlichen Reform nach den Anforderungen europäischer Cultur 
scheinen sie unfähig zu sein und ihr Staatswesen, das Negiment des 
Sultans und seiner Paschas und Effendis in Konstantinopel und in 
den Provinzen ist ein durch und durch verrottetes und corruptes, 
ein geradeu unverbesserliches. Wenn jedoch die Nussen die Hoff- 
nung heglen, schon jebt die Türken nach Asien zurück zu werfen 
und das Kreuz auf der Hagia Sophia aufzupflanzen, so haben sie 
sieh geläuscht. Die definitive Losreißung Rumäniens, Serbiens und 
Monlenegros von der Pforte, die Aufrichtung des Fürstenthums 
Bulgarien und die Constitnirung der Antonomie Ostbulgariens und 
noch mehr fast die Ueberantworlung Bosniens und der Herzegowina 
an Oesterreich wie die beschlossene ansehnliche Bergrößerung Griechen- 
lands haben dem Bestande der Türkei einen neuen schweren Stoß 
versetzt. Die innere Auflösung des türkischen Reichs in Europa ist 
bereits eingetreten und der Anfang einer Theilung desselben durch 
die Mächte hat begonnen. Aber es wird allem Anschein nach doch 
noch Jahrzehente dauern, bevor sein Schicksal sich vollendet haben 
wird. Die christlichen Bevölkerungen der Valkanhalbinsel sind 
größeren Theils zur Freiheit und Selbständigkeit noch nicht reif 
und werden es erst allmälig werden. Die sog. bulgarischen Gräuel, 
erst die der Türken gegen die Bulgaren und dann die der Bulgaren 
gegen die Türken, haben hinreichend bewiesen, daß man es mit 
Barbaren oder doch Halbbarbaren auf der einen wie auf der anderen 
Seile zu thun hat. Die verschiedenen Nationalilälen sind dorl zu- 
dem vielfach so durch einander gewürselt, daß die Ruhe und eine 
friedliche Eutwickelung überall nur möglich ist, wenn die verschie- 
denen Rarten und Coufessionen sich gegenseitig dulden lernen, wozu 
es noch längerer Zeit bedürfen wird. Jedenfalls wird mit dem 
Fortgang der Dinge und bei einer definitiven Lösung der orientali- 
schen Frage das überall in jenen Gegenden so zahlreich vertretene 
griechische Element ganz anders in die Wagschaale fallen und be- 
rücksichtigt werden müssen, als es von Seite der Mächte im J. 1878 
geschehen ist. Die vorläusige Erledigung der aufgehäuften Schwierig-
	        
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