Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

Nebersicht der polilischen Enlwickelung des Jahrroe 1878. 521 
keilen erfolgte eben durch den Berliner Congreß nur nach den augen- 
blicklichen Inleressen der verschiedenen daran betheiligten Mächte 
und selbst die Durchführung des Verliner Friedensverkrages ist noch 
keineswegs gesichert. 
Die Thäligkeit der Regierung sowohl als das Interesse der 
öffentlichen Meinung wurden in England und Oesterreich von diesen 
orientalischen Dingen fast gang absorbirt. In Frankreich und Deutsch- 
land war dieß in sehr viel geringerem Grade der Fall. Beide 
waren vielmehr im J. 1878 von innern politischen Kämpfen und 
Strömungen in Anspruch genommen, welche indeß wenigstens in 
Frankreich bis zu Cude des Jahres zu einem gewissen Abschluß 
kamen, während sie in Deutschland sich erst zu entwickeln anfingen TZeut- 
und zwar zunächst aus der sog. Kanzlerkrisis, mil welcher das Jahr 14% 
1877 abgeschlossen hatte. . 
Diese hatte ihren Ausgangspunkt in dem Entlassungsgesuche, 2ie 
das der Reichskanzler im April des vorhergehenden Jahres in Folgeannuer- 
feiner längst erschütlerten Gesundheit dem Kaiser eingegeben hatie. Flailt die 
Der Kaiser war darauf, wie zu erwarten stand, nicht eingegangen, Sieller- 
hatte dagegen dem Kanzler einen Urlaub auf unbestimmte Zeit er- inns 
theilt, was nothwendig nähere Bestimmungen begzüglich seiner Slell- fras 
verlretung nach sich ziehen mußte. Darüber nun hatte sich Streit 
erhoben. Der Reichskanzler wünschte die Frage lediglich innerhalb 
des Nahmens der bestehenden Reichsverfassung zu erledigen; die 
Fortschrittspartei dagegen wollte sie dazu benützen, um die alleinige 
und ausschließliche Verantwortlichkeit des Reichskanglers zu beseitigen, 
der Reichsregierung eine mehr oder weniger definitive Organisation 
zu geben, und zu diesem Ende hin förmliche Neichsminister, die nicht 
unter, sondern neben dem Reichskanzler ständen und dem Reichslage 
jeder für sein Ressort verantwortlich wären, aufzustellen. Die Frage 
hatte zu wiederholten, einläßlichen Debatten im Reichslage geführt, 
ohne jedoch enlschieden zu werden. Die Fortschriltspartei war dabei 
von der allerdings unlängbaren Thatsache ausgegangen, daß die 
diesfalls bestehenden verfassungsmäßigen Bestimmungen doch im 
Grunde nur provisorische seien und sich gänglich auf die Persönlich= 
keit des Reichskanglers stützten, mit seinem Abgange aber, der ja 
früher oder späler doch unausweichlich erfolgen müsse, durchaus un- 
haltbar sein würden, und hielt es für angemessen, schon jetzt dafür 
Vorforge zu tragen und die Reichsregierung demgemäß sofort nach 
richtiger constilulioneller Theorie zu organisiren. Und die Fort-
	        
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