Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

Uebersicht der polilischen Enlwichelung deo Jahreo 1878. 523 
her zu erreichen: statt die Particularstaaten durch ein constitulionelles 
Reichsministerium auf Kosten des Vundsrathes vor den Kopf zu 
stoßen, verfolgte er den Plan, ohne Veränderung der Neichsver- 
fassung, innerhalb des Nahmens derselben die Einzelstaaten in ihren 
Interessen vom Reiche abhängig zu machen und dadurch in den 
Dienst des Reiches gewissermaßen zu zwingen. Zu diesem Ende hin 
hatte er schon früher die Idee einer Erwerbung der sämmtlichen 
deutschen Staatsbahnen für das Reich in Anregung gebracht und 
in Preußen dafür schon die einleitenden Schrille getrossen; der 
Widerstand der übrigen Particularstaaten aber hatte ihn genöthigt, 
das Project wenigstens für einmal wieder völlig ruhen zu lassen. 
Dagegen ergriff er jetzt mit dem ihm eigenen Feuereifer und einer 
Energie, die keinen Widersland kennt, den Plan einer durchgreifenden 
Finanz= und Stenerreform, die dazu dienen follte, nicht nur das 
Reich durch Beseitigung der sog. Matricularbeiträge finangiell von 
den Eingelstaaten unabhängig zu machen, sondern durch Enlwickelung 
des indirecten Stenersystems dem Reiche so ergiebige Mehreinnahmen 
zuguführen, daß dasselbe im Stande wäre, auf jene Matricular= 
beiträge zu verzichten und sogar noch den Einzelstaaten erkleckliche 
Summen für ihre speziellen Zwecke und Bedürfnisse zu überlassen, 
somit also das bisherige Verhältniß geradezu umzukehren, und die 
Eingelstaaten finanziell vom Reiche abhängig zu machen. In diesem 
Sinne warf er neben einer Uebertragung der gesammten Stempel= 
stenern auf das Reich, neben der Einführung einer Börsensteuer 
u. dgl. namentlich das Project auf, das Tabakmonopol, das in 
Frankreich, Oesterreich und Italien bereits bestand und im erst- 
genannten Lande der Regierung jährlich über 300 Mill. Franken 
abwarf, auch in Deutschland einzuführen. Wenn dasselbe in Deutsch- 
land, wo doch noch ungleich mehr geraucht wird als in Frankreich, 
auch nur annähernd so viel eintrug wie in Frankreich, so würde 
dem Reichskanzler diese Eine indirecte Stener genügt haben, um alle 
seine Zwecke zu erfüllen. Die Regierungen der Einzelstaaten konnten 
gegen das Project eigenllich nicht allguviel einwenden, da es ihnen 
große finangielle Vorkheile versprach und ihren particularen Rechten 
und ihren Ansprüchen in keiner Weise zu nahe trat. Die öffent- 
liche Meinung dagegen nahm es fast durchweg sehr ungünflig auf, 
zumal durch dasselbe ein blühender Industriezweig, der viele Tausende 
intelligenter und arbeitsamer Leute beschäftigte, erbarmungslos hätte 
hingeopfert werden müssen, wenn sie auch zugab, daß eine höhere
	        
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