Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

Die 
Finangz= 
und 
Wirth. 
schafte. 
resorm. 
526 Uebersicht der politischen Enlwickelung des Jahres 1878. 
Regierungen darin eine Beeinträchligung ihrer Stellung zu erkennen 
meinten. Der Reichskanzler, immer bemüht, die Parlicularregierungen 
zu schonen, gab auch sofort nach und verzichtete insofern auf seine 
Vorlage. Bedeutungslos war der Verzicht indeß keineswegs. Die 
engere Verbindung zwischen der Reichsregierung und dem preußischen 
Staatsministerium, wie sie der Reichskangler geplant, war dadurch 
wo nicht unmöglich gemacht, wenigstens sehr erschwert. Von einem 
preußisch-deutschen Instizminister konnte nicht wohl mehr die Rede 
sein und noch weniger von einem preußisch-deutschen Eisenbahn- 
minister, kaum noch von einem preußisch-deutschen Reichsfinanz- 
minister. Die ganzge Siellvertretungsfrage war dadurch in ihrer 
Tragweite sehr zusammengeschrumpft. 
Der Neichskanzler aber fah sich für die Stärkung des Reichs 
und der Reichsgewalt, der alle seine Sorgen zugewendet waren, auf 
die Finanz= und Wirthschaftsreform zurückgeworfen, die er aller- 
dings schon bisher keinen Angenblick aus den Augen gelassen hatte 
und die er aber jetzt immer energischer, immer dringender in Angriff 
nahm und nachgerade auch immer umfangreicher und tiefgreifender 
ausgestaltete. Um den Gang der Dinge, der für Deutschland 
schließlich wirlhschaftlich und politisch geradezu verhängnißvoll wer- 
den sollte, zu verstehen, darf nicht aus den Augen gelassen werden, 
daß der Reichskangler von Anfang an als sein Ziel die Beseitigung 
der bisherigen Matricularbeiträge ins Auge gefaßt hatle, um das 
Neich von den Gingelstaaten finanziell unabhängig zu machen und 
als Mittel dazu die stärkere Ansbentung der indirecten Stenern, 
um dadurch dem Reiche eine Mehreinnahme von 2 bis 300 Mill. 
Mark zu verschaffen, den Ueberschuß über den Betrag der Matri- 
cularumlagen ganz oder doch zum Theil den Einzelstaaten zu über- 
weisen und so diese vom Reiche finanziell mehr oder weniger ab- 
hängig zu machen. Das war sein Plan, sein Ausgangspunkt und 
sein Ziel und blieb es auch ohne Zweifel bis zuletzt. Zuerst dachte 
er dasselbe auf einen Schlag durch Einführung des Tabakmonopols 
zu erreichen, und wenn ihm dieses sofort zugestanden worden wäre, 
so hälte er zunächst wohl nicht an die Herbeiziehung noch anderer 
und zwar immer mehr und mehr Stenerobjeclte gedacht oder, wenn 
er daran gedacht hätte, so würde wohl verzweifelt wenig Aussicht 
bestanden haben, im Reichstag noch mehr Steuern durchzusetzen 
und das ganze bisherige Wirthschaftssystem der Nation über den 
Haufen zu werfen, auch wenn er, wie es später geschah, die so wirk-
	        
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