Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

534 Mebersicht der polilischen Eulwickelung des Jahres 1878. 
einer so schändlichen That auch nicht die mindeste Veranlassung, 
nach keiner Nichtung und in keiner Weife, gegeben. Die That glich 
Tie daher einem Blitzstrahl in finsterer Nacht, der die Nation plötzlich 
Sozial= 
en 
demo- 
rralie. Rande eines furchtbaren Abgrunds gestanden habe und noch stehe, 
darüber aufklärte, daß sie und zwar schon seit einiger Zeit am 
ohne daß es ihr zum vollen, klaren Bewußtsein gekommen wäre. 
Seit den ersten Jahren des verflossenen Jahrzehentes hatten sich die 
sog. Arbeiter unter der Führung Lassalle's als soziale und politische 
Partei organisirt und diese war seither stätig aber nachgerade fast 
unaufhalktfam gewachsen: in allen Theilen Deutschlands ohne Aus- 
nahme hatte sie Vereine unter den verschiedensten Namen gegründet, 
ihre Anhänger zählten nach Hunderttausenden und sie gebot bereits 
über eine stattliche Anzahl kleiner Blätter, welche ihre Anschauungen 
und Grundsätze verfochten und verbreiteten, und deren Einfluß durch 
zahlreiche Broschüren unterstützt wurde. Durch die Wahlgesetze ge- 
hemmt, hatte diese Partei, die sich die sozial-demokratische nannte, 
bisher nicht vermocht, in den Landtagen der Einzelstaaten Fuß zu 
fassen, dagegen zählte sie in Folge des allgemeinen Stimmrechts im 
Reichstage bereits nicht weniger als 12 ausgesprochene Vertreter 
ihrer Bestrebungen und namentlich in Sachsen und am Rhein war 
sie mehr oder weniger zahlreich auch in die Gemeindevertretungen 
eingedrungen. Ihren Grundsätzen gemäß negirte sie vollständig die 
Grundlagen der bestehenden sozialen und politischen Staatsordnung 
und war eifrig bemüht, deren sicherste Pfeiler, die religiösen Ueber- 
zengungen, die Rechte des individuellen Eigenthums, die Heiligkeit 
der Ehe und der Familie in dem Bewußtsein ihrer Anhänger zu 
gerstören und darüber hinaus in immer weiteren Kreisen zu er- 
schüttern und zu untergraben. Zufrieden mit ihrer von Jahr zu 
Jahr größeren Ausbreitung hütete sie sich dagegen vor Excessen, in 
der zuversichtlichen Hoffnung, daß es ihr dereinst mit Einem Schlage 
gelingen werde, sich der Gewalt zu bemächtigen. Allem Aunschein 
nach war es eben dieß, was die große Mehrheit der Nation bisher 
über die Größe und über die Nähe der Gefahr getäuscht hatte: sie ver- 
ließ sich fast blind auf die Stärke der Staatsgewalt, daß diese unter 
allen Umständen im Falle sein würde, jeden freveln Versuch augen- 
blicklich gewaltsam zu Boden zu schlagen; bloße Grundsätze, bloße 
Theorien aber, wie irrig und wie gefährlich an sich sie auch sein 
möchten, müßten der öffentlichen Discussion überlassen bleiben, die 
ihnen schon ihr Recht werde angedeihen lassen. Die Frevelthat
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.