Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

558 Lebersichl der politischen Enlwichelung des Jahres 1878. 
geeignet, ihnen bei den besonneneren Freunden Italiens besonderen 
Credit zu verschaffen; radicalen Thorheiten, wie der Agitation für 
die Italia irredenta und den republitanischen Bestrebungen des alten 
Garibaldi, wird sie ganz anders als bisher entgegen treten müssen, 
weun sie nicht wenigstens im Auslande allen Credit verlieren will. 
Vollends thöricht ist die Unzufriedenheit vieler Italiener, daß auf 
dem Berliner Congresse nicht auch für sie wie für Oesterreich irgend 
etwas abgefallen ist. Wenn JItalien, wie es behauptet, mit Oester- 
reich auf gutem Fuße stehen will, so muß es auf Triest und Wälsch- 
tyrol und auch auf gewisse Zettelungen in Albanien, die doch keine 
Aussicht haben, zu irgend einem Erfolg zu führen, Oesterreich aber 
Spaniennothwendig erbittern, gänzlich verzichten. Spanien erregte während 
des ganzen Jahres im übrigen Europa wenig Aufmerksamkeit und 
noch weniger Theilnahme. Der junge König hat fortwährend den 
besten Willen, aber sein Premierminister Canovas del Castillo muß 
reactionären und clericalen Strömungen und Ansprüchen mehr nach- 
geben als gut ist; von der Opposition aber weiß Niemand, was sie 
eigentlich will. Alles bewegt sich in Exkremen und eine vernünftige 
Mittelpartei, die beide im Zaume zu halten im Stande wärc, fehlt 
gänzlich. Doch gelang es der Regierung in diesem Jahre, den Auf- 
stand auf Cuba, freilich mehr durch Bestechung ihrer bisherigen 
Führer als durch Waffengewalt, zu unterdrücken und die Perle der 
echweiz. Antillen für Spanien noch einmal zu retten. In der Schweiz ge- 
rielh das große Unternehmen der Gotthardbahn in Folge irriger 
Voranschläge in ein momentan fehr bedenkliches Gedränge. Das- 
selbe mußte nicht unwesentlich beschränkt werden und doch mußten 
die zunächst betheiligten Staaten, außer der Schweiz selbst Italien 
und Deutschland, neuerdings wieder mit aufehnlichen Subventionen 
vor den Niß treten. Doch scheint die Ausführung der Bahn damit 
jetzt gesichert zu sein. In der frangösischen Schweiz wurde sogar 
bereits ein zweiter Alpendurchstich, derjenige des Simplon, ernstlich 
ins Auge gefaßt und wird dabei auf die Unterstützung wiederum 
Italiens, dann aber namentlich Frankreichs — wie es in der That 
scheint, nicht ohne Aussicht — gehofft. Gegen Eude des Jahres 
wurde die Aufhebung der bei der letzten Revision der Bundesver- 
fassung durchgesetten gesetzlichen Abschaffung der Todesstrafe an- 
geregt und schließlich, wenn auch nicht ohne Widerstreben, von 
beiden Näthen der Vundesversammlung dem Volksentscheid unter- 
stellt, der jedoch erst im Jahre 1879 erfolgen wird. An sich ein
	        
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