Full text: Europäischer Geschichtskalender. Neunzehnter Jahrgang. 1878. (19)

560 Uebersichl der polilischen Enlwickelung des Jahres 1878. 
Die mehr in Anspruch als selbst die inneren Angelegenheiten. Es zeigte 
rsnt üich bald, daß der Berliner Friede keine definitive, sondern unter 
Frage allen Umständen nur eine provisorische Lösung der sog. orientalischen 
noch dem Frage war und sogar für die nächste Zukunft schien seine ungeschmälerte 
'uliner Durchführung jeden Angenblick wieder in Frage gestellt werden zu 
gresse wollen. Es ging dieß fast unausweichlich aus der Stellung Ruß- 
lands und der Pforte, die sich in der enropäischen Türkei vorerst 
noch immer gegenüber standen, hervor. Rußland hatte in Verlin 
nach seiner Ansicht eine Niederlage erlitten, in die es sich nur sehr 
vage derungern fügte; bezüglich der Türkei aber hatte dort thatsächlich un- 
Türlei. längbar eine erste Theilung derselben stattgefunden. Serbien, Ru- 
mänien, Montenegro waren ihr gänzlich entrissen und in dem neuen 
Vulgarien, ja sogar in dem ihr wieder zugesprochenen Ostrumelien 
ein neuer Pfahl ins Fleisch gestoßen worden. Doch konnte das als 
eine nalürliche Folge des Krieges und ihrer Niederlage angesehen 
werden. Aber der Congreß hatte überdieß Oesterreich mit Bosnien 
und der Herzegowina, Griechenland mit einem erheblichen Gebiets- 
zuwachs in Thessalien und Epirus bedacht, ohne daß dieselben am 
Kriege Theil genommen hatten; und an England hatte die Türkei 
außerdem Cypern abtreten und eine gewisse Protection über Klein- 
asien, Syrien und Mesopotamien einrämmen müssen. In Berlin 
waren die Vertreker der Pforte überhaupt mit sehr geringen Rück- 
sichten von allen Seiten, Eugland nicht ausgenommen, als die Ver- 
treler einer Macht behandelt worden, über welche fortan Europa zu 
verfügen habe. Dadurch in ihrem Selbstbewußtsein, in ihrer Actions= 
sähigleit nicht blos erschüttert, sondern tief niedergedrückt, glich sie 
um so mehr einem schwankenden Rohre, als ihr bei ihren ohnehin 
deplorabeln finangiellen Verhältnissen und unmittelbar nach einem 
unglücklichen Kriege, der ihre letzten Kräfte erschöpft hatte, alle 
materiellen Mittel fehllen, um sich wieder emporzurichten. Was 
noch an Steuern rc. einging, wurde von dem in keiner Weise be- 
schränkten Haushalte des Sultaus und von den Constantinopeler 
Paschas und Effendis sowie von dem ganzen Troß nichtsnutziger 
höherer Beamteter in Beschlag genommen, die nicht daran dachten, 
sich das Mindeste abzubrechen; für die so dringend nothwendige 
Neorganisation der Armee blieb blutwenig übrig, selbst die unzu- 
reichenden Reste hielt nur die Naturalverpflegung zusammen, der Sold 
war um viele Monale im Rückstand; die niedern Beamten aber 
wurden mit fast werthlosem Papiergeld bezahlt und konnten hungern
	        
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