Da deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 16—17.) 89
in einer Gestalt auf, welche jene gründliche Heilung in hohem Grade er-
schweren uinß. Sie gehl von einer Seite aus, welche sich bisher nur als
Versechterin einer höchst unduldsamen, verfolgungssüchiigen, geistig sehr be-
schränlten Orthodoxie kundgethan hat. Die Gefährlichkeit dieser Richtung
liegt ja viel weniger in dem Festhalten an den alten Glaubenssahungen als
vielmehr in dem Gewicht, das man dem Bekennen derselben inweis t, und
er dabei unvermeidlichen Zurückstellung des Sittlichen. Daß jene pure
Kirchlichkeit allein das Heilmitlel sein könnte, möchten wir doch sehr be-
zweifeln, wenn gleich sich ein Teufel durch den anderen am leichteslen aus-
treiben läßt. Bedenklicher fast ist die Connivenz, ja die offene Parteinahme
für gewisse Säbe des Sojzialismus, welche für das natürliche Gefüge der
Gesellschaft grundstürzend sind. Solche erscheinen z. B. in der fleißig col-
portirten Schrift des Psarrer Todt, welche gleichsam das ausführliche Pro-
gramm der christlichen Sozialisten bildet und alle Zugeständnisse der Ka-
thedersozialisten noch weit überbietet. Jener ominöse Aussatz in der Zeitschrift
jener Richtung, der nachzuweisen suchte, daß schon die christliche Nächstenliebe
eine solche Aenderung des Erbrechts erheische, da den Erben nur so viel
übrig bleibe als zum Leben nothwendig sei, hat freilich bald in denselben
Blättlern eine Entgegnung erfahren, mit dem Hinweise, das Blatt sei ein
offener Sprechsaal; allein daß man dergleichen Thorheiten doch als dieputable
und disrussionsfähige Meinungen ansiehl, ist nicht geeignet, der Vewegung
Vertrauen in der Klasse aller Verständigen zu erwerben. Endlich verbindet
sich damit jenes bekannte conservative Pollern gegen alle Gesetze der neueren
Zeit, welche die Absicht haben, die wirthschaftliche Rraft des Volkes von
den bisherigen Fesseln zu befreien. Wenn der Sozialdemokrat auf die Bour-
geoisie schimpft, stimmt der christliche Sozialist wacker mit ein, indem er den
Liberaliemus meint. Diese Tendenz, Freischaaren= Corps für die Wahlurne
zu bilden, um sie gegen alles, was liberal heißt, zu führen, blickt nicht selten
hindurch."
16. Mai. (Deutsches Reich.) Der Krouprinz geht nach
nginm Der preuß. Minister des Innern, Graf zu GEulenburg,
geht nach Varzin zum Reichskangler, um sich über die gegen die
Sozial-Demokratie vorbereitete Vorlage an den Reichstag mit ihm
zu benehmen.
16. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: genehmigt in
2. Lesung den Gjies.-Entw. betr. den Spielkartenstempel und ebenso in
2. Leiung en bloc den Ges.-Entw. betr. die Gerichlskosten= und die
Gebührenordnung für Gerichtsvollgieher und für Zeugen und Sach-
verständige.
I7. Mai. (Deutsches Reich.) Bundesrath: die preußische
Regierung legt ihm einen Ges.-Enkw. zur Abwehr gegen sozial-
demokratische Ausschreitungen vor. Derselbe laulet:
& l. Druckschriften und Vereine, welche die Ziele der Sozialdemokratie
versolgen, können von dem Bundesrath verboten werden. Das Verbot ist
öffentlich bekannt u machen und dem Reichstag sofort oder, wenn derselbe
nicht versammelt ist. bei seinem nächsten Zusammentriit mitzutheilen. Der
Reichstag kann die Aufhebung des Verbots beschließen. 5 2. Die Verbrei-
tung von Druckschriften an öffentlichen Orten, auf Straßen und auf öffent-