Das deulsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 19.) 91
schlag dazu unmöglich vom Kultminister Falk und schwerlich auch
vom Oberkirchenrath ausgegangen ist, da er eine vollständige
Schwenkung dieser Behörde bedeuten würde. In demselben Sinne
wird auch der bekannte starrorthodoxe Ob.-Cons.-Nath Hegel zum
kgl. Commissär bei der brandenb. Synode ernannt. Wie es scheint
in Folge dieser Vorgänge, gibt der Cultminister Falk seine Entlassung
ein, ohne erst seine Collegen und namentlich den Reichskanzler davon
in Kenntniß zu setzen.
Die sog. Hospredigerpartei hat in den Synoden entschieden die Ober-
hand. Wie schroff und unversöhnlich gegen die liberale und gemäßigte Rich-
tung diefe neue Neaction zu verfahren geneigt ist, beweist sie sofort dadurch,
daß sie in Benütung des, mit Ansnahme der alten Provinz Preußen, überall
die Mehrheit sichernden Bundes zwischen der Rechten und dem rechten Cen-
trum — „Confessionelle“ und „positive Unionisten“ — die gemäßigte Mittel-
partei fast gänzlich und die Linke vollständig von der Vertretung im Vor-
stand, und damit auch von der Vertretung in den Consistorien, ausschliestt.
19. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: 3. Lesung der
Gewerbegesetzuovelle.
Reichslanzleramtspräsident Hofmann erklärt, die Regierung trage kein
Bedenken, den meisten der von dem Reichstage in zweiter Lesung beichlofse
nen Nenderungen zuzustimmen. Zu den wenigen Punkten, wo der Bund
ralh die Wiederherstellung der Regierungsvorlage oder wenigstens eine Ve-
änderung der Beschlüsse zweiker Lesung wünsche, gehöre der § 105 (betr. die
Sonnlagsarbeit), wo die Kommissionsbeschlüsse weiter gingen als die Re-
gierungsvorlage; jerner, die obligatorische Einführung von Fabrikispeltoren,
wie bei der zweiten Lesung zu § 139 beschlossen worden. In der Dis-
cussion über das Verbot der Sonntagsarbeit lenkt Bamberger sofort auf
die Frage ab, die bereits alle beschäftigt: die Bekämpfung der sozial-demo-
satiichen- Bewegung, und warnt die kirchlich gesinnten Conservativen vor
der Illusion, als ob durch die Vergesellschaftung religiöser Interessen mit
sozialistischen der Sozial-Demokralie ein Damm geseht werden könne. In
dieser Verbindung werde das sozial-demokratische Element sich als das slär-
lere erweisen. Indem man die religiöse Frage der Sonntagsheiligung mit
der sozialistischen Forderung des Verbots der Sonntagsarbeit vermische, stärke
man nur die sozial-demokratische Strömung. Bamberger tritt also der Windl-
borst'schen Throrie, daß man den halbwegs berechtigten Forderungen der
Sogzial-Demokralie so schuell als möglich entgegenkommen müsse, entschlossen
entgegen. Von conservativer Seile wird kein Versuch gemacht, das Verhalten
der „christlich gozialen Partei“ zu vertheidigen; dagegen protestirt der ultra-
montane Dr. Lieber sehr energisch gegen die Behauptung Bambergers: er
habe gesagt, er gienge lieber mit Hrn. Most als mit Hru. v. Helldorf, unter-
läßt es aber klugerweise zu wiederholen, was er wirkl ch gesagt hat, näm-
lich: wenn er die Wahl habe, mit Hru. Most zu „liebängeln“ oder mil
Hru. v. Helldorf, so ziehe er den ersteren vor. Auch Windthorst nimmt
entschiedene Slellung, beruft sich auf die Worke des Kaisers an das Staals-
ministerium, „insbesondere komme es darauf an, daß dem Bolke die Religion
nicht verloren gehe,“ betonte wiederholt, daß gegen die Sozial-Demokralen
keine Maßregeln helfen würden (also auch nicht das sogenannie Attentats-
gesen), wenn man nicht die kirchlichen Grundlagen wiederherstelle. Mit an-
deren Worten: Nom bictet dem Raiser seine Dienste gegen die Sozial-Demo-=
7*