92 Das deulsche Reich und seine einjelnen Glieder. (Mai 20 -24.)
kratie an. Nebenbei wird insinuirt, daß die Liberalen, welche Heilerkeit
jrigen, wenn von den Vorschriften der Kirche über die Sonntagsseier die
Rede ist, die Mitschuld daran tragen, daß in sozial-demokratischen Versamm-
lungen über Gottes Wort gelacht werde. Wie sehr das Centrum den Blick
nach oben gerichtet hält, verräth die persönliche Bemerkung Windthorst's:
der Vorwurf, daß er durch die Bezugnahme auf die Worte des Kaisers in-
constitutionell gehandelt habe, rühre ihn nicht, für ihn sei die Person des
Kaisers keine bloße Fiktion, sondern eine lebende hohe Anlorität, und diese
Zu zitiren werde er sich immer für berechtigt halten! Schliehlich wird der
Antrag auf Wiederherstellung der Negierungevorlage betr. die Sonntags-
arbeit in namentlicher Abstimmung mit 132 gegen 131 Stimmen angenom-
men; dagegen beharrt das Haus bei seinem Beschlusse betr. obligatorische
Einführung von Fabrikinspektoren.
Dagegen scheitert der Ges.-Entw. betr. Einführung von Ge-
werbegerichten im letzten Augenblick an der Frage der Bestätigung
der von den Gemeindeorganen zu bestellenden Vorsitzenden durch die
Regierung.
—21. Mai. (Deutsches Reich.) Bundesrath: genehmigt
die Vorlage betr. Abwehr gegen sogial-demokratische Aueschreitungen,
doch unter Streichung des § 6 und mit einzelnen, indeß mehr re-
dactionellen, Aenderungen.
In der Begründung des Gesetzentwurfs wird hervorgehoben, es liege
die Todicht ferne, das Vereins= und Versammlungsrecht und das Recht freier
Meinungsäußerung allgemeinen dauernden Beschränkungen zu unterwerfen,
es erscheine aber im öffeutlichen Interesse geboten, dem fortgesetzten Miß-
brauche der Sozial-Demokraten mit diesen Freiheiten Schranken zu setzen
und auf diese Weise den Bestrebungen Naum IZu gewähren. die darauf ge-
richlet sind, durch Aufklärung, Belehrung, Stärkung des Sinns für Recht
und Sitte und wirthschaftliche Verbesserungen die Wurzeln des Uebels zu
- Solche Schranken könne nur die Gesetzgebung aufrichten.
22. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: die nat.-lib. Fraktion
beschließt einstimmig die Ablehnung des sog. Sogialistengesetzes in
dieser Form.
23.—24. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: genehmigt
in dritter Lesung eine Rechtsanwaltsordnung für das ganze Reich
und geht hierauf über zu der Debatte über das sog. Sozialistengesetz.
Die nat.-lib. Partei erklärt sich gegen eine Annahme in der vor-
liegenden Fassung, dagegen bereit, der Regierung in der Herbstsitzung
die Hand zur Abhülfe auf Grund einer besser vorbereiteten Vorlage
zu bieten. Amendementsantrag Gneist-Beseler. Derselbe wird mit
213 gegen 60, die Vorlage selbst mit 251 gegen 57 Stimmen ab-
gelehnt.
Schluß des Neichstags durch kais. Votschaft, welche der Prä-
sident des Reichskanzleramtes verliest.
Uebersicht der Debatte: Reichskanzleramtspräsident v. Hof-