Das deulsche Reich und seine rinzelnen Glieder. (Mai 23—24.) 93
mann vertritt den Entwurf in nachstehenden Ausführungen: Jeder denkende
Staatsmann arbeile seit Jahren der von inneren Feinden drohenden Gefahr
entgegen; bislang sei aber jeder legislakorische Versuch, ihr zu begegnen, im
Reichetage mißlungen. Die Frevelthat vom 11. Mai lege den verbündeten
Regierungen die Pflicht auf, ihrer Verantwortung getren, auf's Neue der
Gefahr entgegenzutreten. „Wir verlangen kein Vertrauensvotum vom Reichs-
tag; wir halten dieses Mittel gegen die Gefahr für geboten. Lehnen Sie
das Gese ab, so hat der Bundesralh seine Schuldigkeit gethan; nicht ihn,
nicht die verbündeten Regierungen trifft die Schuld und Verantwortlichkeil
weiterer Folgen, sondern den Reichstag. Den Gedantm der Sozial-Demo-
kratie wird weder ein Ausnahmegesetz, noch ein Gesetz überhaupt beseiligen
können. Das ist zunächst Aufgabe der Kirche; im Weiteren muß die Schule
helfen, andere geistige Mitlel müssen eingreisen. Aber dieß hilft nichts,
wenn der Staat nicht seine Schuldigkeit thut, der Ansbreitung der Sozial-
Demokralie entgegenzutreten. Gegenüber der Ausnuhung des Vereins= und
Versammlungsrechts muß der Staat auftreten. Der Zeitpunkt des Einschrei-
tens ist ein ungünstiger, weil er an den Schluß einer langen anstrengenden
Session fällt und weil der leitende Staatemann durch Krankheit verhindert
ist, anwesend zu sein. Die verbündeten Regierungen halten den von ihnen
betretenen Weg für den richtigsten und zweckmäßigsten, um angenblicklich der
dringendsten Gefahr zu begegnen.“ Liebknecht verliest im Namen sämmt-
licher sozial-demokratischer Abgeordneter die Erklärung, daß sie es mit ihrer
Würde für unvereinbar halten, an der Discussion des Gesehentwurfs theil-
zunehmen, sich aber au der Abstimmung betheiligen werden. Jörg spricht
im Namen des Centrums cgen die Vorlage. Graf Bethusy-HOuc (frei-conf. 9
tritt für dieselbe ein. v. Beunigsen (nat.-lib.) fordert die Regierung auf,
der Behauptung entgegenzutreten, sie habe die Borlage eingebracht, obschon
sie gewußt, daß dieselbe abgelehnt werde. Wäre dieß der Fall, so wäre es
der Negierung weniger darum zu thun gewesen, die Genehmigung zu außer-
ordentlichen Maßregeln gegen die Sozial-Demolraten zu erhalten. als vielmehr
um den Vorwand zu einer außerordentlichen Maßregel. In Erkenntniß der
durch die Sozial-Demokraten drohenden Gefahren sei seine Parlei mit der-
jenigen des Vorredners und der Regierung einverstanden; es bandle sich da-
rum, geeignete Mittel dagegen zu finden. Er bedauert, daß die Vorlage im
Zusammenhange mit dem Attentat erfolgte, kritisirt ihre Bestimmungen und
bezeichnet die vorgeschlagenen Maßregeln als die denkbar wenigst geeigneten.
Der Bundesrath als entscheidende Instanz sei nach seiner Zusammensetzung,
seinem Charakter, nach der Zeit seines Beisammenseins ungerignet für die
gestellte Aufgabe, ebenso der Reichstag als Kontrol= und NRevisions-Instanz.
Dann beleuchtet er die andern einzelnen Bestimmungen der Vorlage und
fragt, ob auf dem Boden der bestehenden regelmäßigen Gesehgebung nichts
Wirksameres gegen die Sozial-Demokraten vorgekehrt werden könne. Es sei
viel versäumt worden; die bestehenden Gesetze hätten von den bestehenden
Verwaltungsbehörden bis zur äußersten Greuge, des Zulässigen angewendel
werden müssen; das sei nicht geschehen! Wenn Lücken der Gesetzgebung vor-
handen, so sei er mit seiner Partei bereit, Hand zur Abhilfe, eventuell in
der Herbstsession, auf dem Gebiele des gemeinen Nechtes zu leihen. Nepressiu-
maßregeln gegen die Sozial-Demokraten hätten nie und nirgends gefruchtet.
Bei den jevigen verworrenen ministerielten Zuständen in Preußen und im
Neiche lönne man Befugnisse, wie die Vorlage wolle, der Verwallung nicht
geben. In Preußen sei die Ministerkrifis in ibore auch Fall's Stel-
lung sei nun erschüttert. Der Regierung dürfe man diktatorische Gewalt
nur einräumen, wenn man wisse, wer sie ausübe, und dieß müsse man na-
mentlich dann, wenn man die Gefahr nicht sehe, die eine Diktatur erheische.