Full text: Europäischer Geschichtskalender. Einundzwanzigster Jahrgang. 1880. (21)

150 Hos deutsche Reich und seine einzelnen Glirder. (Mai 8—10.) 
mehr jung, ich habe gelebt und geliebt (Heiterkeit), — gesochten auch und 
ich habe keine Abneigung mehr gegen ein ruhiges Leben. Das Einzige, was 
mich in meiner Stellung hält, ist der Wille des Kaisers, den ich in seinem 
hohen Alter gegen seinen Willen nicht habe verlassen können, — versucht 
habe ich es mehrmals. Aber ich kann Ihnen sagen, ich bin müde, kodt- 
müde, und namentlich, wenn ich erwäge, gegen was für indernisse ich 
kämpfen muß, wenn ich für das deutsche Reich, für die deutsche Nation, für 
ihre Einheit eintreten will. Ich will das nicht charbcern, ich würde 
den Gleichmuth verlieren; aber ich möchte die Parteien darauf aufnerksam 
machen: ich muß, wenn ich dem Kaiser vorschlage, die Last, die ich nicht zu 
tragen vermag, in andere Hände zu geben, doch Vorschläge machen; ich bin 
auch überzeugt, daß Seine Majestät nach dem langen Vertrauen, was mir 
geschenkt worden ist, auf diese Vorschläge einige Rücksicht nehmen wird. 
Nun, wenn ich sehe, daß die Macht des Centrums unüberwindlich ist, daß 
die Zerissenheit aller übrigen Deutschen die gleiche bleibt, so muß ich in 
meinem Interesse für den inneren Frieden, wenn ich zurücktrete, Seiner 
Maj estät vorschlagen, das Cabinet, welches mir nachfolgen wird, in einer 
Sphäre zu suchen, der es Möglich sein wird, die Wünsche des Centrums 
und die der conservativen Parteien mit einander zu vereinigen. Wenn ich 
die Hoffnung, daß, weil ich mich dem System, welches das Centrum ver- 
tritt, nicht unterwerfen kann und auch glaube, daß mit den Ansprüchen, die 
die Herren vertreten, der Friede in Preußen dauernd nicht zu finden sein 
wird, wenn sie die Ansprüche nicht modificiren — — ich will es ihnen 
wünschen, mir ist es ja ziemlich einerlei, ob nach mir „Fortschritt und 
Freihandel"“ meinen Nachfolger auf den Weg nach Canossa drängen, ich 
kann es aushalten so gut wie Andere; der andere Weg ist nur dann mög- 
lich, wenn alle diejenigen, die mit den Bestrebungen der Centrumspartei 
nicht einverstanden sind, ihrerseits geringere Streitigkeiten, als diejenigen, 
die die Erhaltung und Fortbildung des Neichs betreffen, so lange ruhen 
lassen; kurz, wenn die ganzen liberalen Parteien sich dazu entschließen können, 
dem Centrum die Heerfolge absolut und für immer zu versagen. Können 
sie das nicht, dann sind meine Voraussichten trübe; können sie das, so will 
ich meine letzten Kräfte dem Streben dazu widmen, — aber ich kann jeden 
Mißerfolg so ruhig mit ansehen, wie irgend einer von Ihnen. Ich weiß 
nicht, warum mir 105 deutsche Reich und seine Zukunft näher slehen follte, 
als irgend jemand unter Ihnen. Sie sind alle Deutsche; Minister kann 
jeder nh eit lang sein und nicht mehr sein; daß ich * ein stärkeres 
Interesse als andere Deutsche am Neich haben müßte, weil ich zufällig lange 
Kanzler gewesen bin, das glaube ich nicht, wenn ich mich auch nicht zu der 
saturnischen Politik meines früheren Collegen, der vor mir gesprochen hat, 
verstehen kann — das nicht! so ruhig zusehen, daß das deutsche Reich, wel- 
ches ich mit Aufwand meiner Lebenskraft habe begründen helfen, zurückgeht, 
das vermag ich nicht. In meinem Alter wird man aber ruhiger und stiller, 
ich habe ein Bedürfniß nach beschaulicher Einsamkeit, — dann richten Sie 
sich das Reich ein, wie Sie wollen, aber verlangen Sie meine Mitwirkung 
nicht, wenn jeder sich für berechti ist, und berufen hält, die Grundlagen des 
Beich in Frage zu stellen."“ (Lebhaftes Bravo rechts, Zischen links und im 
entrum. 
Ein Rückblick auf den Verlauf der Session des Reichstags 
ergibt ein sehr geriuges positives Resultat. Von größerer Bedenle# sind 
eigentlich nur der Etat für 1880/81, die Militärnovelle und die Verlänge- 
rung des Speialistengeiebes, Die Budgetverhandlungen wickelten sich dieß- 
mal glatt und rasch ab — als ob sie den Beweis liefern sollten, wie schwach 
begründet jene Vorlage fei lros im Hinblick auf die angebliche Lang- 
 
	        
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