Full text: Europäischer Geschichtskalender. Einundzwanzigster Jahrgang. 1880. (21)

212 Das deulsthe Reich und seine einzeluen Glieder. (Aug. 22.) 
Deulschland rekrutirte. Die Kassenberichte beweisen, daß die Beiträge noch 
immer reichlich fließen; seit Erlaß des Socialistengesetzes seien im Ganzen 
gegen 70,000 Mark eingegangen. Der darauf verlesene allgemeine Bericht 
behandelt die Verhältnisse innerhalb der Partei, so namentlich in Betreff 
der Angriffe Most's gegen seine bisherigen Parteigenossen. Von Most wird 
gesagt, daß das Flüchtlingsleben ihn beeinflußt habe. „Was die sogenannte 
ofriedliche Umgestaltung“ und den „gefetzlichen Weg" betrifft, so seien diese 
Säße von der Gesammtpartei niemals anders aufgefaßt worden, als daß 
damit die Partei ihre Absicht ausspreche, auf friedlichen und geseplichen 
Wegen, soweit es von ihrem Willen abhänge, zu ihrem Ziele zu gelangen, 
und daß, wenn dies nicht möglich sei, dies nicht die Schuld der Partei, 
sondern ihrer Feinde sei, welche die reformatorische Entwicklung verhinderken. 
Dagegen sei die „Revolutionsmacherei" des Herrn Most ein Nonsens, nur 
geeignet, die Partei gegenüber den reactionären Behörden zu compromittiren.“ 
Darauf wurde über die Haltung Most's und die Parteiorganisation dis- 
cutirt. Die meisten Redner sprachen sich mil großer Entschiedenheit gegen 
das Vorgehen Most's aus, der in die Reihen der Socialdemokratie nur Ver- 
wirrung gebracht habe. Interessant war das allseitig gemachte Zugeständ- 
niß, daß das Socialistengesetz die Führer überrascht und die Massen verwirrt 
habe. Lange Zeit blieben die Seckionen ohne Verbindung mit den Häuptern 
und wußten nicht was zu thun, weil sie noch immer einer energischen Leitung 
bedürfen. In dieser Zwischenzeit, bevor das neue Centralorgan, der „Social- 
demokrat“ erschienen, habe die Most'sche Freiheit verderblich gewirkt und 
großen Einfluß gewonnen. Später wurden mehrere Anträge discutirt. Von 
besonderem Interesse ist der, welcher das Wort „gesetlich“ (nämlich auf ge- 
setzlichem Wege für die Ziele der Socialdemokratie zu agitiren) aus dem 
Gothaer Programm vom Jahre 1875 streichen will. Alle Redner sprachen 
sich für den Antrag aus. Es wurde dabei namentlich hervorgeboben, „daß, 
nachdem die deutsche Regierung durch Annahme des infamen „Gesehes“ vom 
21. October 1878 uns jede gesetzliche Agitation unmöglich gemacht, es ein 
Nonsens sei, das Wort „gesetzlich“ in unserem Parteiprogramm stehen zu 
lassen. Jeder Versuch, irgendwie agitatorisch für unsere Bestrebungen ein- 
zutreten, sei ja nach diesem „Gesetz“ ungesetzlich; lassen wir daher das Wort 
„gesetzlich" im Programm stehen, so verzichten wir damit darauf, ferner 
Socialdemokraten zu sein oder für die Socialdemokratie zu wirken, und 
machen uns außerdem einer groben politischen Lanchrkei schuldig.“ Ein 
Redner hebt noch besonders hervor: Könne die Socialdemocratie gesehlich 
etwas erlangen, so werde sie dies selbstverständlich nicht von der Hand 
weisen; allein bei der Art und Weise, mit der gegen sie vorgegangen werde, 
müsse sie erklären, daß ihr jedes Mittel recht sei, dieses Gesehz illusorisch zu 
machen und der Verwirklichung ihrer Ziele näher zu rücken. Dies müsse 
offen ausgesprochen werden und deßhalb sei die Streichung des genannten 
Passus aus dem Programm nothwendig. Hierauf wird der Antrag mit 
allgemeiner Acclamation einstimmig angenommen. Es wurde dann auch 
der Antrag, die Frage „ob Schutzzoll und Freihandel“ als eine interne An- 
gelegenheit der Bourgeoisie zu behandeln, besprochen, aber darüber kein Be- 
schluß gefaßt. Dagegen wurden Rejolntionen angenommen, welche die Partei- 
führung principiell als richtig bezeichnen und derselben das Vertrauen der 
Partei aussprechen.“ 
22. August. (Bayern.) Der König erläßt auf das bevor- 
stehende 700jährige Regierungsjubiläum des Hauses Wittelsbach in 
Bayern folgende Proclamation:
	        
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