Full text: Europäischer Geschichtskalender. Einundzwanzigster Jahrgang. 1880. (21)

256 Das deutsche Reich und seine einzelurn Glieder. (Nov. 19.) 
(Osnabrück) beantragt eine Resolution des Inhalts, daß Seitens der Reichs- 
regierung schlemigst. giie Enguate über unsere Münzverhällnisse veranstaltet 
werde, um die dur s Provisorium (9eschaffene schädigende Ungewißheit 
zu beseitigen. rche Mendelssohn (Berlin) beantragt Namens 
der Aeltesten der Berliner Kaufmannschaft und der Handelskammern von 
Augsburg, Bremen, Bayreuth, Hamburg und Bielefeld folgende Zusätze zu 
der Resolution des ständigen Ausschusses: „Der deutiche Handelstag hält es 
vielmehr für geboten, die nöthigen Maßregeln zu ergreisen, um thunlichs iit 
schnell die durch das Provisorium geschaffene schädigende Ungewißheit zu 
seitigen und den Abschluß unserer auf der Grundlage der reinen Goldwährung 
beruhenden Münzgesehgebung herbeizuführen. Falls sich das von manchen 
Seiten behauptete Bedürfniß nach einer Vermehrung der Reichssilbermünzen 
(besonders 1= und 2#4—Stücke) als dauernd vorhanden beransstellen sollte, 
so würde der Handelztag kein Bedenken in der Befriedigung dieses Bedürf- 
nisses erblicken.“ Neferent Soetbeer zieht im Laufe der Debatte seinen Zu- 
sahaantrag zurück. Die Abstimmung erfolgt nach Handelskammern. Bei 
derselben stimmen 84 Kammern resp. Vereine für den kombinirten Antrag 
des ständigen Ausschusfes nebst den Berliner Zusätzen und nur 5 dagegen. 
Die Dissentirenden sind die Handelskammern von Dortmund, Lauban, Oz- 
nabrück, Schweidnitz und Cheinnih. 
Die Verhandlungen des Handelstags haben dießmal sehr dadurch ge- 
litten, daß sie der Zeit nach theilweise mit der parlamentarischen Verhand- 
lung über die Indenfrage zusammenfielen. Ob die Beschlüsse desselben in 
Zukunft neben dem Volkswirthschaftsrath noch eine Nolle spielen werden, 
muß, troß der gegentheiligen Versicherung des Staatsministers v. Bötticher, 
zweijelhaft erscheinen. Einem aufmerksamen Beobachter kann es nicht ent- 
gehen, daß der schutzzöllnerische Paroxysmus, von dem die Mehrheit des 
Fondelataas im Jahre 1878 erfaß war, erheblich nachgelassen hat, und daß 
selbst den sindustriellen Schutzzöllnern, die ja im Handelstage vorzugsweise 
vertreten sind, die bei den Verhandlungen über den Zolltarif geschlossene 
Allianz mit den Agrariern, welche ihnen die Zustimmung zu den Getreide- 
zöllen u. s. w. abnöthigle, immer abeanemere wird. Von dieser Seite würde 
der Beseitigung der lehteren kein ernster Widerstand entgegengesetzt werden. 
Das Märchen, daß die Zölle auf die unentbehrlichsten Lebensmittel keinen 
fühlbaren Einfluß auf die Preise ausüben, glaubt heutzutage niemand mehr. 
Selbst Frhr. v. Zedlitz hat in dem lehten Heite der „Preußischen Jahrbücher" 
zugegeben, daß die Getreidezölle gerade die wirthschaftlich schwächsten Schichten 
des Volkes belasteten. Um die Wirkung dieser Erkenntniß zu paralhysiren, 
bemüßen sich freilich die Agrarier jetzt den Schutzzöllnern begreiflich zu machen, 
aß die Industriezölle und die landwirthschafilichen Zölle untrennbar ver- 
bunden sind, und daß die ersteren mit den eepteren. fallen müssen. Wie lange 
diese Drohungen vorhalten werden, bleibt abzuwarten. 
19. November. (Deutsches Reich.) Die „liberale Ver- 
einigung" (die nationalliberalen Seressionisten) gründen einen Wahl- 
verein der Liberalen. Der erste 8 des Statuts dieses Wahlvereins 
lautet: 
„Der Vrrein bezweckt a) auf die Wahl liberaler Männer für die 
Volksvertretungen hinzuwirken, welche entschlossen sind, der rückschrittlichen 
Bewegung auf politischem, kirchlichem und wirthschaftlichem Gebiet entschieden 
entgegenzutreten; b) die Verständigung der liberalen Männer, bezw. bestehen- 
den liberalen Organisationen in den eingelnen Wahlkreisen, über eine gemein- 
same Aufstellung von Candidaten für die Volksvertretungen herbeizuführen."“