Full text: Europäischer Geschichtskalender. Einundzwanzigster Jahrgang. 1880. (21)

Lußland. (Oct. 4.) 471 
der Tagespresse, wobei Loris Melikoff in ziemlich eingehender Weise 
das Programm der Regierung entwickelt hätte, um der Presse den 
Rahmen zu zeigen, in welchem sie sich frei bewegen darf. 
Die Mittheilung des Blattes darf ohne Zweifel Anspruch auf Authen= 
ticität machen, und die ganze Fassung läßt vermuthen, daß die Tarstelluung 
den Worten des Grafen ziemlich entsprechend! ist, mit denen er das 
ramm entwickelte. Tie Mittheilung lautet: „Der Hr. Minister bees Innen 
hat die Redacteure der großen Presse zu sich berufen, um ihnen mitzutheilen, 
sie mögen die Gesellschaft nicht unnützerweise durch Hinweise auf die Noth- 
wendigkeit aufregen, daß die Gesellschaft zur Theilnahme an Gesehgebung 
und Verwaltung, sei ees in der Form europäischer Repräsentativversamm- 
lungen oder in der Form der alten Semskisja Sobory (berathende Ver- 
sammlungen) herangezogen werden müsse. Nichts dergleichen habe man im 
Auge, und ihm seien solche schwärmerische Auslassungen der Presse um jo 
unangenehmer, als die durch sie in der Gesellschaft erweckten Hoffnungen 
mit seinem Namen in Verbindung gebracht wurden, obgleich er, der Mi- 
nister, hiezu gar keine Vollmachten erhalten und auch persönlich nichts ähn- 
liches im Auge habe. Er sei fest überzeugt, daß im gegenwärtigen Moment 
am nothwendigsten folgendes sei, worauf er seine volle Aufmerksamkeit rich- 
ten werde: den neuen schon bestehenden Institutionen Kraft einzuhauchen 
und sie mit den Institutionen der früheren Zeit in Uebereinstimmung zu 
bringen, und letztere so weit umzugestalten, als erforderlich sein wird. 
her werde das vor allem durchzuführende Programm, für das fünf bis 
ben Jahre nöthig sein dürften, folgendes umfassen: 1) Der Semstwo ! 
den anderen communalen und corporativen Institutionen die Möglichkeit 
eben, die ihnen durch das Gesetz eingeräumten Rechte zu genießen; Pglei•h 
un die Erleichterung ihrer Pflichten in den Fällen angestrebt werden, in 
welchen die Erfahrung in einem oder dem anderen Theile der ihnen vom 
Geseh eingeräumten Thätigkeit einen Mangel an solchen Vollmachten auf- 
decken würde, welche für eine reguläre Führung der Sache und für die öSco- 
nomische Aufbesserung der respectiven Fegenden nothwendig sind. 2) Ein 
einheitliches Polizeiwesen zu schaffen und es mit den neuen Institutionen 
in Uebereinstimmung zu bringen, damit die noch heute vorkommenden Ab- 
weichungen vom Gesehe nicht mehr möglich seien. 3) Den Provinzialinsti- 
tutionen bezüglich der Erledigung der ihnen unterstellten Angelegenheiten 
größere Selbständigkeit zu verleihen, damit sie nicht nöthig haben, sich in 
jeder unbedeutenden Sache ach St. Petersburg zu wenden und eine Ent- 
scheidung zu erbitten. 4) Die Wünsche, Nöthen und Zustände der Bevölke- 
rung der verschiedenen Gonvernements zu erforschen, zu welchem Zweck auf 
Ansuchen des Ministers des Innern Senatoren- Niistonen in einigen Gou- 
vernements angeordnet sind; ferner auf Grund der Ergebnisse der Rebi- 
sionen den Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerung nach Möglichkeit, 
mit Rücksicht auf die öconomische Lage derselben, nachzukommen. 5) Der 
Presse die Möglichkeit zu bieten, verschiedene Maßnahmen und Verordnungen 
der Regierung zu besprechen, jedoch mit der Bedingung, daß sie die Stim- 
mung der Gesellschaft nicht „unnüherweise durch die oben erwähnten Illu- 
sionen aufrege und verwirre.“ 
4. October. Vor dem Militär-Kreisgericht in Charkow findet 
wieder ein politischer Proceß gegen 14 Angeklagte statt, worunter 
ein Docent der dortigen Universität, der Staatsrath Sytianko und 
dessen Sohn, und ein Gymnasiast. 
  
  
 
	        
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