Mebersicht der polilischen Entwichlung des Jahres 1880. 529
die Lösung der Frage zu verschleppen. Da indeß die Mächte wenig-
stens diesen untergeordneten Punct des Berliner Vertrags ins Reine
gebracht zu sehen dringend wünschten, so unternahm es der italienische
Gesandte in Konstantinopel, Graf Corti, eine Vermittlung zu suchen.
Es gelang ihm auch wirklich, eine solche zu finden: Montenegro war
bereit, auf Gusinje und Plava, die ihm der Berliner Vertrag zu-
gesprochen hatte, zu verzichten und dagegen einige andere Bezirke in
Tausch anzunehmen. Am 12. April wurde sogar ein förmlicher
Vertrag über einen solchen Austausch zwischen Montenegro und der
Pforte unterzeichnet. Aber auch dieser Vertrag kam nicht zur Aus-
führung. Die Albanesen wollten auch von der neuen Abtretung
nichts wissen und die Pforte sah sich daher alsbald derselben Schwie-
rigkeit gegenüber wie vorher. Umsonst drangen die Mächte auf die
Ausführung des Vertrags; die Pforte blieb unthätig und griff
neuerdings zu dem bei ihr so beliebten System des Hinausziehens,
der Verschleppung.
Inzwischen waren aber in England die Tories von der Oppo= Ein,
sition bei den Parlamentswahlen geschlagen worden und trat ein greifen
Cabinet Gladstone an die Stelle desjenigen Beaconfields. Die Genge
Lage der Pforte gegenüber den Großmächten war dadurch mit einem
Schlage eine ganz andere geworden. Statt Nachsicht und Unter-
stützung wie bisher hatte sie nunmehr von England in allen ihren
Schwierigkeiten das gerade Gegentheil zu gewärtigen. Im Laufe
der den Parlamentswahlen vorangegangenen Agitation hatte Herr
Gladstone über seine Anschauungen und seine Gesinnungen bezüglich
der Türkei keinen Zweifel gelassen. Er begnügte sich nicht damit,
in Uebereinstimmung mit der öffentlichen Meinung ganz Europas
das langsame Absterben der Osmanenherrschaft auf der Balkan-
halbinsel zu constatiren und sie mit den übrigen Mächten langsam
absterben zu lassen. Er warf sie vielmehr schon jetzt zu den Todten
und schien den Augenblick nicht erwarten zu können, bis die Türken
„mit Sack und Pack“ wieder über den Bosporus zurückgeworfen
würden. Zu diesem Ende gab er das Stichwort aus, die Balkanhalb=
insel müsse den Balkanvölkern gehören, schonte Rußland und suchte
sich mit demselben auf einen möglichst guten Fuß zu stellen, griff
dagegen Oesterreich-Ungarn mit Rücksicht auf seine Occupation Bos-
niens und der Herzegowina und bezüglich seiner weiteren Pläne
über Mitrovitza hinaus und bis Salonichi hinunter mit äußerster
Behemenz an, indem er ihm ungescheut sein „die Hände weg“ zurief.
Schulihess, Curop. Geschichtskalender. XXI. Bd. 34