Full text: Europäischer Geschichtskalender. Einundzwanzigster Jahrgang. 1880. (21)

Aebersicht der politischen Enlwichlung des Jahres 1880. 561 
und außerdem mehrere große Mißgriffe begangen, namentlich darin, 
daß sie fortwährend auf eine Verminderung des Heeres drang, das 
doch unter den obwaltenden Umständen für Oesterreich eine ebenso 
absolute Nothwendigkeit ist, wie für Deutschland, und dann, daß sie 
das bosnische Unternehmen fortwährend bekämpfte, obgleich dasselbe 
Oesterreich= Ungarn durch seine Stellung gegenüber Rußland wie 
gegenüber den Zuständen auf der Balkanhalbinsel und der sichtlich 
zerfallenden Osmanenherrschaft in der That förmlich aufgedrungen 
worden war. Die Verfassungspartei hatte sich dadurch zunächst und 
bis auf einen gewissen Grad geradezu regierungsunfähig gemacht. 
Der bisherige Ministerpräsident Fürst Auersperg ließ sich nicht länger 
davon abhalten, zurückzutreten, und das ohne ihn reconstruirte Mi- 
nisterium Stremayr war nur ein Proviforium, das keinen Bestand 
hatte. Als nun der Kaiser den Grafen Taasfe 1879 mit der Neu- 
bildung des Ministeriums betraute, besetzte es dieser zur Hälfte aus 
gemäßigten Mitgliedern der Verfassungspartei, zur Hälfte aus ge- 
mäßigten Föderalisten und gedachte eine zwischen beiden Parteien 
vermittelnde Bahn einzuschlagen und eine Stellung „über den Par- 
teien“ einzunehmen; und da gerade die allgemeinen Wahlen zum 
Reichsrathe vor der Thür standen, war er bemüht, sich eine Mittel- 
partei zu schaffen, um mit ihrer Hilfe nach der einen wie nach der 
anderen Seite Maß halten zu können. Allein darin scheiterte er 
vollständig und verlor damit von vorne herein die freie unabhängige 
Stellung, die er im Auge gehabt hatte. Die Neuwahlen ergaben 
ein kleines Uebergewicht der verbündeten föderalistischen Parteien und 
wenn dieses Uebergewicht auch nur wenige Stimmen betrug, so war es 
doch genügend, um ihn, wofern er nicht alsbald wieder zurücktreten 
wollte, zu zwingen, sich auf die Rechte zu stützen, die ihrerfeits als- 
bald entschlossen war, die günstige Stellung auch auszunützen. Graf 
Taaffe ging darauf ein, allerdings widerstrebend und möglichst zö- 
gernd, aber er ging darauf ein. So wurde das Ministerium im 
Laufe des Jahres 1880 wiederholt modificirt, bis schließlich alle 
deutsch-liberalen Elemente aus demselben ausgeschieden und durch 
czechische, polnische rc. ersetzt waren und auch den weiteren Forderun- 
gen der föderalistischen Mehrheit des Reichsraths kam er nach und 
nach, Schritt für Schritt so weit entgegen, daß er schließlich ganz 
und gar als das willenlose Werkzeug dieser Mehrheit erschien. Den 
Buchstaben der Verfassung hat dabei Graf Taaffe allerdings nicht 
verletzt, aber vom Geist derselben wird jeden Augenblis Umgang 
Schulthess. Eurov. Geschichtskalender. XXlI. Bd.