Full text: Europäischer Geschichtskalender. Einundzwanzigster Jahrgang. 1880. (21)

Uebersicht der polilischen Eulwichklung des Jahres 1880. 591 
Nom hat keine Ursache auf das Jahr 1880 mit Befriedigung Tie 
zurückzublicken. Deutschland ist noch nicht nach Canossa gegangen tmaut 
und scheint auch ganz und gar keine Lust zu haben, je dahin zu Gurie. 
gehen; alle Versuche der Curic, in Italien wieder festen Fuß zu 
fassen, haben bis jetzt wenigstens zu keinem Ziele geführt; in Frank- 
reich und Belgien aber hat sie große, schwere Niederlagen erlitten. 
Aeußerst bezeichnend war die durchaus verschiedene Haltung, welche 
Rom diesen Bedrängnissen gegenüber in Italien, in Deutschland, in 
Belgien und in Frankreich einzunehmen für gut fand. Nom gibt 
keinen Anspruch auf, den es je einmal erhoben hat; aber es weiß, 
sich in die Umstände zu schicken, selbst nachzugeben, wo es sein muß. 
In Italien hofft es, nach einer Ansprache des Papstes an eine An- 
zahl ehemaliger päpstlicher Beamteter vom 24. October 1880, noch 
immer darauf, die frühere weltliche Herrschaft gelegentlich wieder 
zurückzuerobern, obgleich dafür augenblicklich auch nicht der Schim- 
mer einer Aussicht obwaltet, und erwartet alles von der beabsich- 
tigten Ausdehnung des Stimmrechtes, die dort allerdings eine totale 
Verschiebung der Parteiverhältnisse zur Folge haben könnte; in 
Deutschland ist es, gestützt auf die Centrumspartei, zäh bis zum 
Aeußersten, erträgt rücksichtslos einen Nothstand, den es selbst ver- 
schuldet hat und spielt mit dem Reichskanzler, der ihm gewachsen 
ist, eine Art Schachpartie, deren einzelne Züge von beiden Seiten 
wohl überlegt sind und deren Ausgang noch nicht zu berechnen ist; 
in Belgien ist es abwechselnd hochfahrend, zweidentig und hinter- 
listig: gegenüber Frankreich legt es seine Blitze kluger Weise bei 
Seite und fügt sich schweigend in das Unvermeidliche, um nur 
noch zu retten, was vielleicht doch noch zu retten ist. Was Rom 
in den letzten Jahren in Italien, in Deutschland, in Belgien ein- 
gebüßt hat, ist ein wahres Kinderspiel gegen das, was in Frankreich 
nur im letzten Jahre Schlag auf Schlag auf sein Haupt niederge- 
fallen ist. Es hüthete sich jedoch wohl, seinem hierarchischem Zorn, 
den es Schmerz zu nennen pflegt, durch eine flammende Allocution 
Luft zu machen. Die französische Regierung steht auf dem festen 
Boden des Concordats und ist offenbar entschlossen, sich nicht zu 
beugen und den Rechten des Staates auch nicht ein Titelchen zu 
vergeben. Der Papst möchte immer noch als weltlicher Souverän 
angesehen und behandelt werden und hält daher die Fiction seiner 
Gefangenschaft im Vatican mit äußerster Consequenz aufrecht. Die 
Abberufung des belgischen Gesandten war ihm daher fehr fatal und