Full text: Europäischer Geschichtskalender. Zweiundzwanzigster Jahrgang. 1881. (22)

Dos deuische Reich und seine einzelurn Glieder. (Nov. 17) 281 
Gebiete wird allein die sein, daß Wir kommenden Generationen das neu ent- 
standene Reich Lefestigt durch gemeinsame und ergiebige Finanzen hinter- 
lassen. Die Vorbedingung für weitere Beschlußnahmen über die erwähnten 
sozialen und politischen Reformen besteht in der Herstellung einer zuver- 
lässigen Berufsstatistik der Bevölkerung des Reichs, für welche bis- 
her genügendes und sicheres Material nicht vorliegt. Soweit letzteres im 
Verwaltungswege beschafft werden kann, wird es in Kurzem gesammelt sein. 
Vollständige Unterlagen aber werden nur durch gesetliche Anordnung, deren 
Entwurf dem Reichstage zugehen wird, zu gewinnen sein. — Wenn danach 
auf dem Gebiete der inneren Reichseinrichtungen wei#greifende und sowierigo 
Aufgaben bevorstehen, deren Lösung in der kurzen Frist einer Session nicht 
zu bewälligen ist, zu deren Anregung Wir Uns aber vor Gott und 
Menschen ohne Rücksicht auf den unmittelbaren Erfolg derselben 
verpflichtet halten, so macht es Uns um so mehr Freude, Uns über die 
Lage Unserer auswärtigen Politik mit völliger Befriedigung aus- 
sprechen zu können. Wenn es in den letzten zehn Jahren im — 
mit manchen Vorhersagungen und Befürchtungen gelungen ist, Deutschland 
die Segnungen des Friedeus zu erhalten, so haben Wir noch in keinem 
dieser Jahre mit dem gleichen Vertrauen auf die Fortdauer. dieser Wohlthat 
in die Zukunft geblickt, wie in dem gegenwärligen. Die Begegnungen, 
welche Wir in Gastein mit dem Kaiser von Oesterreich und König von 
Ungarn, in Danzig mit dem Kaiser von Rußland hatten, waren der Aus- 
druck der eugen perfönlichen und politischen Beziehungen, welche Uns mit 
den Uns so nahe befreundeten Monarchen und Deutschla and mit den beiden 
mächtigen Nachbarreichen verbinden. Diese von gegenseitigem Vertrauen ge- 
tragenen Beziehungen bilden eine zuverlässige Bürgschaft für die Forldauer 
des Friedens, auf welche! die Politik der drei Kaiserhöfe in voller Ueberein= 
stimmung gerichtet ist. Darauf, daß diese gemeinsame Friedenspolitik eine 
erfolgreiche sein werde, dürfen Wir um so sicherer bauen, als auch Unsere 
Begiehungen zu allen anderen Mächten die freundlichsten sind. Der Glaube 
an die friedliebende Zuverlässigkeit der deutschen Politik hat bei allen Bölkern 
einen Bestand gewonnen, den zu stärken und zu rechtfertigen Wir als Unfere 
vornehmste Pflicht gegen Gott und gegen das deutsche Vaterland betrachten. 
Urkundlich unter höchsteigenhändiger Anterschrist und beigedrucktem kaiser- 
lichem Insiegel. Gegeben Berlin, 17. Nov. 1881. (L. 8) Wilhelm. 
ürst Bismarck. 
Die volschaft wird schweigend angehört ohne irgend ein Zeichen der 
Zustimmung. Die Ueberraschung ist eine große und allgemeine, zumal schon 
die Form der Eröffnung eine für Deutschland neue und ungewöhuliche ist. 
Jede bewillkommnende und einladende Formel ist dem gewählten Mittel des 
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Eröffnungsactes fern geblieben; dafür bot es die Gelegenheit, die völlige 
Solidarität des Kaisers mit seinem Kanzler in dem aufgestellten Regierungs- 
programm in unzweidentigster, allverständlicher Weise authentisch zu be- 
kunden. In diesem Sinne ist schon in der Form für die Sache ein so 
starkes Präjdiz vegeben, daß man es wohl zu würdigen nicht wird umhin 
können. Daß der Reichskangler Tendenz und System seiner Politik wesentlich 
ändern, von denjenigen Bestrebungen, welche er seit Jahren mit wachsender 
Bestimmtheit und Cntschiedenheit als seine lehten Ideale bezeichnet und fest- 
gehalten hat, zurücktreten und sich zu anderen Zielen bekehren und bekennen 
werde, hatte Niemand, der ihn seit zwei Jahrzehnten am Werke gesehen, 
erwarten können. Der ihm entgegentretende Widerstand, einen so ernsten 
und nachdrücklichen Character er auch durch die so eben abgeschlossene Wahl- 
bewegung aufgeprägt erhielt, konnte sein zielbewußtes und energisches 
Streben weder brechen noch beugen, und da er des Einverständnisses mit 
 
	        
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