Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

90 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (April 27.) 
Linke schon einmal eingenommen hat und der dem demokratischen sehr nahe 
steht. Dieser Standpunkt setzt eine parlamentarische Verfassung voraus, die 
wir aber nicht haben; denn unser System ist das konstitutionell- monarchische. 
Wir haben nicht das Recht, von der Krone zu verlangen oder Zwangs- 
mittel anzuwenden, um sie zu bestimmen, die Minister zu wechseln; wir 
stellen nur an die Minister die konstitutionelle Forderung ihre Entlassung 
zu nehmen. Abg. Schels sagt, die Regierung müsse, wenn sie die Mehrheit 
gegen sich habe, geändert werden; das geht in England und Belgien, aber 
bei uns nicht. Am Schlusse das Finanzgesetz ablehnen, nachdem man vor- 
her alle einzelnen Postitonen durchberaten und auch für die Annahme ge- 
stimmt hat, das kommt mir allerdings wie eine Art Komödie vor. Dr. 
Rittler (ultram.): Richtig sei, daß er im Jahre 1876 gegen das Finanz- 
gesetz gestimmt habe; heute werde er für dasselbe stimmen. Ein einzelner 
Abgeordneter könne am Schlusse des Landtages, wenn er an der Budgetbe- 
ratung nicht teilgenommen oder mit wichtigen Beschlüssen nicht einver- 
standen gewesen sei, das Finanzgesetz ablehnen; anders sei es, wenn die 
ganze Volkesvertretung in Frage komme. Ein Budget ganz durchberaten und 
am Schlusse „Nein!“ sagen, verstoße gegen die Logik. Was geschehe, wenn 
das Finanzgesetz verweigert werde? Werde auch das Volk die Steuern ver- 
weigern? Nein! Das Volk würde in dieser Frage nicht hinter der Kammer 
stehen. Die von der Regierung gemachten Konzessionen seien bei loyaler 
Ausführung schon von Bedeutung. Daß sich die Regierung prinzipiell nicht 
geändert habe, gebe er zu, und es sei auch nicht zu hoffen, daß Minister von 
den Prinzipien der Rechten beseelt aus Ruder kommen, weil die allgemeine 
Lage Europa's der Realisierung eines solchen Wunsches entgegenstehe. Seit 
dem Bestehen der Verfassung habe man in Bayern noch kein solches Mini- 
sterium gehabt. (Rufe: Abel!) Das Ministerium Abel sei ein bureaukra- 
tisches Polizeiministerium gewesen. Es werden noch manche Jahre vergehen 
und die Rechte werde immer noch auf das gewünschte Ministerium warten. 
Abg. v. Fischer (liberal): Es habe ihn gefreut, von Dr. Rittler zu hören, 
daß die Opposition, welche dieser vertrete, eigentlich einen Rückhalt im Volke 
nicht habe, und daß das Volk diese Opposition sofort verlasse, wenn einmal 
Ernst gemacht werden solle. Er bedaure nur, daß Dr. Rittler diese Rede 
nicht schon im Oktober v. Jrs. gehalten habe. Würde das Finanzgesetz ab- 
gelehnt, so füge man damit dem Ministerium kein Leid zu, weil es sich, 
nachdem die einzelnen Etats genehmigt, auch ohne Finanzgesetz regieren lasse. 
I. Kammer: gibt der II. Kammer bez:. der streitigen Etats- 
positionen nach. Der Etat ist damit erledigt und festgestellt. 
Eine kgl. Verordnung entspricht der vom Minister v. Lutz am 
17. Februar der ultramontanen Opposition bez. der Schule in Aus- 
sicht gestellten Konzession, indem die Verordnung vom 5. November 
1880 dahin abgeändert wird, daß die Aufnahme in die Volksschule 
fortan nicht erst nach vollendetem 6. Lebensjahre, sondern schon er- 
folgen kann, wenn das 6. Lebensjahr noch im Laufe des Kalender- 
jahrs zurückgelegt wird. 
27. April. (Deutsches Reich.) Eröffnung des Reichstags. 
Die Thronrede wird durch den Staatsminister v. Bötticher verlesen. 
Dieselbe lautet: 
"Geehrte Herren! Se. Majestät der Kaiser und König haben mir
	        
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