96 Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 2.)
ehrenwerter Mann. (Heiterkeit.) Erwägt man, welche Opfer die Konser-
vativen beim Kompromiß gebracht haben, so drängt sich die Überzeugung
auf, daß die Anträge entweder vom Zentrum oder für das Zentrum for-
muliert seien. Jeder zurückberufene Bischof wird einen Triumph der Kirche
über den Staat feiern, und derartige Ereignisse müssen unserem National-
gefühl bittere Niederlagen bereiten. Das Kompromiß ist in Wahrheit eine
Unterwerfung des Staats unter die Kirche, das stolze Staatsschiff Preußen
streicht seine Fahnen vor dem Vatikan.
2. Mai. (Preußen.) Abg.-Haus: Erste Lesung der Ver-
wendungsgesetz-Vorlage. Der Antrag der Konservativen, sie an
eine Kommission zu verweisen, wird mit großer Mehrheit abgelehnt
und die 2. Lesung im Plenum beschlossen.
Der Beschluß zielt offenbar dahin, die Vorlage möglichst kurzer Hand
abzulehnen. Nicht wenig trägt dazu der Wunsch bei, die Session je eher je
lieber zu schließen und so jedes weitere Tagen des Landtags neben dem
Reichs- tag zu vermeiden. Die Regierung verlangt dagegen, daß nicht nur
Verwendungs- gesetz, sondern auch noch die hannoversche Kreisordnung
beraten werde, was namentlich Windthorst gar nicht paßt. Die Frage
führt daher am Schlusse der Sitzung zu einer sehr gereizten Debatte mit
dem Minister von Puttkamer.
2. Mai. (Baden.) Das Domkapitel wählt den greisen
Domdekan und Weihbischof Dr. Orbin einstimmig zum Erzbischof
von Freiburg für die oberrheinische Kirchenprovinz, die auch Mainz,
Rottenburg, Limburg und Fulda umfaßt. Der Gewählte ist der
Regierung durchaus persona grata.
Die Wahl macht einem unerquicklichen Zustande ein Ende und be-
nimmt der ultramontanen Partei den letzten Vorwand zu ihrer feindseligen
Haltung gegen die Regierung. Der Gewählte ist nach allen Versicherungen
ein Mann, dessen Persönlichkeit geeignet erscheint, ein vollständig friedvolles
Verhältnis zwischen Regierung und Kurie herbeizuführen und zu erhalten,
zumal die gegenseitige Gereiztheit der Kulturkampfzeit bei Regierung, Volk
und Kurie einem lebhaften Friedensbedürfnis gewichen ist. Als im Jahre
1868 nach dem Tode des frühern Erzbischofs Vicari die Kurie der Regierung
die Vorschlagsliste einreichte, stand Kettler von Mainz als der erste, Dr.
Orbin als der letzte auf derselben. Die Regierung strich damals alle Namen
bis auf den des Dr. Orbin als minder genehm. Darauf verbot der Papst
dem Domkapitel die Aufstellung einer neuen Liste und auch ein späterer
Versuch der Regierung, die Besetzung des erzbischöflichen Stuhles zu er-
möglichen, hatte keinen Erfolg. In der Tatsache, daß jetzt Orbin und zwar
einstimmig gewählt worden ist, liegt nun der Beweis, daß auch die Kurie
mit sich handeln läßt, wenn man auch zugeben muß, daß inzwischen die
Regierung auf Manches verzichtet hat, was sich trennend zwischen beide Ge-
walten stellte. Die ultramontane Partei gibt sich freilich noch nicht zur
Ruhe und hofft, den 76jährigen Greis als willenloses Werkzeug leiten zu
können, wie schon früher den Erzbischof v. Vicari trotz seiner entschieden
milden Gesinnung. Doch darin irrt sie sich. Ihrem von Rom aus durch
einen eigenen Abgesandten unterstützten Versuch, dem neuen Erzbischof den
ultramontanen Domkapitular Knecht als Weihbischof aufzuzwingen und als
Wächter an die Seite zu setzen, tritt derselbe mit der entschiedenen Erklärung