Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 6.) 5
der Konservativen bereits für Nachmittag 1 Uhr eine Reichstagssitzung an-
beraumt sei. Er und seine Freunde perhorreszierten das Schwanken im
Prinzip der Verwendungen. Das Gesetz solle nur provisorisch gelten bis
zur Einführung der Steuerreform; die Mittel für dasselbe seien noch nicht
vorhanden. Das Monopol werde abgelehnt werden, aber auch im Falle der
Annahme desselben sei es für die Lösung der sozialen Frage in Anspruch
genommen. Er ersucht § 1 abzulehnen. Minister v. Puttkamer betont:
man solle eine Vorlage. welche 54 Prozent der direkten Steuern abnehme,
nicht so kurzer Hand abweisen. Die Regierung tat ihre Schuldigkeit; wenn
das Parlament das Gesetz ablehne und den darbenden Steuerzahlern statt
des Brodes der unmittelbaren Erleichterung den Stein ungewisser Ver-
tröstungen gebe, habe es die Verantwortung zu tragen. Ein Verhalten wie
das der Gegner mache allerdings eine Verständigung mit der Regierung fast
unmöglich.
Herrenhaus: Interpellation Schlieben über die Ausschlachtung
bäuerlicher Grundstücke in den Östprovinzen.
Minister Dr. Lucius hält die von Schlieben geschilderten Zustände
für übertrieben; er habe auf allen seinen Dienstreisen, namentlich in den
Notstandsdistrikten, stets gehört, daß sich die Verhältnisse seit den letzten
zwanzig Jahren gebessert haben. Der Mangel an Realkredit der kleinen
Besitzer sei unlängbar; hier sei aber nicht durch die Gesetzgebung, sondern
mit den Mitteln des Staates und der Provinzen und mit eigener Kraft zu
helfen. Die Frage, ob es der Regierung bekannt sei, daß Parzellierungen
bäuerlicher Grundstücke in einer die Existenz des Bauernstandes gefährden-
den Ausdehnung zugenommen haben, müsse er verneinen. Wäre dies trotz-
dem der Fall, so werde die Regierung der Frage die höchste Aufmerksamkeit
zuwenden, statistische Erhebungen anstellen und an der Hand derselben er-
wägen, wie jene Zustände zu beseitigen seien.
6. Mai. (Deutsches Reich.) Reichstag: die Auszählung
ergibt, daß derselbe beschlußunfähig ist, wie es scheint absichtlich,
um gegen das Nebeneinandertagen von Reichstag und preußischem
Landtag zu demonstrieren.
6. Mai. (Deutsches Reich.) Parteitag der Liberalen Ver-
einigung (Sezessionisten) in Berlin. Es haben sich ca. 200 Ver-
trauensmänner der Partei eingefunden.
Frhr. Schenk v. Stauffenberg, mit Aklkamation zum Präsidenten
gewählt, eröffnet die Versammlung: „Seit unserer letzten Versammlung sind
außerordentlich umfangreiche Aufgaben an uns herangetreten. Das wird
in weiteren Kreisen immer mehr empfunden. Unsere inneren Zustände haben
sich folgerichtig, aber in trauriger Weise, so weiter entwickelt, wie wir es
leider vorausgesehen haben. Zwei Gefahren sind es, die uns vorzugsweise
drohen, gegen welche wir uns wappnen müssen, die von derselben Stelle
aus einsetzen und uns an unserem Lebensnerv angreifen. Die erste Gefahr
empfinden wir Süddeutschen vielleicht noch stärker als die Norddeutschen,
das ist die kirchliche Reaktion, die sich mit der politischen Reaktion verbindet.
Die zweite Gefahr ist der sozialistische Geist, welcher die Vorlagen der Re-
gierung immer mehr zu durchdringen scheint, der die weitere Entwicklung
unseres ganzen gesellschaftlichen Lebens mit den schwersten Gefahren bedroht,
und welchen wir in den letzten Jahren nicht mehr nach unten, sondern nach
obenhin zu bekämpfen haben. Der Liberalismus steht und fällt aber mit
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