Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Mai 31.) 105 
Zu einer solchen zu gelangen, ist eine doppelte: das Vorhandensein zahl- 
reicher Innungsfeinde innerhalb des Handwerkerstandes, und der Mangel 
eines Systems vorläufiger Organisationen, welche als Krystallisationspunkt 
für die Gesamtheit des Handwerkerstandes dienen könnten. Nun muß leider 
konstatiert werden, daß man sich auf jener Seite mit der Mühe, die gegen 
die obligatorische Innung vorgebrachten Gründe sachlich zu widerlegen, bis- 
her nicht sonderlich geplagt hat. Es ist uns in der Tat kein Fall bekannt, 
in dem diese Widerlegung in halbwegs durchgreifender Weise auch nur ver- 
sucht worden wäre. Man begnügte sich mit der emphatischen Versicherung. 
„es gehe schlechterdings nicht anders, und jeder Mensch müsse ja begreifen, 
daß es auch nicht anders gehen könne." Daran reihte sich dann gemeinig- 
lich die weitere, als Drohung aufgefaßte Erklärung, auf etwas Weiteres 
könne und werde der Handwerkerstand sich nicht einlassen, und wenn man 
ihm dies nicht gewähre, so gehe er eben vollständig zu Grunde. Nur schade, 
daß alle diese Emphase an dem bestehenden Verhältnisse nichts ändert. Wenn 
die Handwerker ihre Gegner überzeugen wollen, so müssen sie geistige Waffen, 
wirkliche, überall auf tatsächliche Verhältnisse sich stützende Gründe ins 
Feld führen. Bis heute aber hat noch Niemand nur das folgende einfache 
Dilemma zu lösen versucht: Soll wirklich Jeder, der das betreffende Ge- 
werbe in irgendeiner Weise betreibt, der Innung angehören müssen, oder 
sollen diejenigen, welche gewisse Bedingungen nicht erfüllen, vom Gewerbe- 
betrieb ausgeschlossen werden! Eines von diesen beiden muß doch geschehen, 
wenn die Innung eine obligatorische sein soll. Das erstere würde die In- 
nung in den weitaus meisten Fällen aus einer Mehrheit teils unbrauchbarer, 
teils der Innung prinzipiell feindlicher Elemente bestehen lassen. Das letz- 
lere — nun, wer hat den Mut, in einer Zeit, in welcher das Tabakmonopol 
hauptsächlich darum fallen mußte, weil dasselbe viele Leute genötigt hätte, 
einen anderen Lebensberuf zu suchen, und in welcher die Arbeitslosigkeit und 
die mit derselben zusammenhängende Vagabundennot so furchtbare Dimen- 
sionen angenommen haben, Tausenden und Hunderttausenden den Gewerbe- 
betrieb (oder, was in den meisten Fällen dasselbe heißen würde, das Be- 
schäftigen von Gesellen und Lehrlingen) aus keinem anderen Grunde unter- 
sagen zu wollen, als weil sie nicht in den Rahmen der Innung passen?“ 
31. Mai. (Preußen.) Der Kaiser und König unterzeichnet 
das von beiden Kammern des Landtags beschlossene neue kirchen- 
politische Gesetz. Die längere Zögerung des Kaisers fällt einiger- 
maßen auf. Die Presse aller Parteien beschäftigt sich mit der Mög- 
lichkeit eines grundsätzlichen Wechsels in der Regierungspolitik und 
einer Wiederannäherung derselben an eine liberale Mittelpartei. 
Das ultramontane Hauptorgan, die „Germania“, ruft der Re- 
gierung ein „Entweder-Oder“ zu und scheint auf eine Krisis gefaßt 
zu sein, indem es erklärt: 
„Es überrascht uns nicht sonderlich, daß jetzt an verschiedenen Stellen 
die Wiederversöhnung des Reichskanzlers mit den Liberalen ventiliert wird; 
auf wessen Kosten das Festmahl bei der Rückkehr des verlorenen Sohnes 
gefeiert werden soll, ist leicht zu erraten. Der Artikel der gestrigen „Nordd. 
Allg. Ztg.“, welcher den Staat unbekümmert über das Zentrum zur Tages- 
ordnung übergehen lassen will, wird Wasser auf die Mühle der ausgleichs- 
lustigen Liberalen sein. Wir unsererseits stehen dieser Spekulation ungemein 
kühl gegenüber und sehen zunächst in diesem Gerede einen Beweis, daß
	        
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