Full text: Europäischer Geschichtskalender. Dreiundzwanzigster Jahrgang. 1882. (23)

Das deutsche Reich und seine einzelnen Glieder. (Juni 11—15.) 109 
Dingen erforderlich, daß bei den nächsten Wahlen dieses Herbstes für den 
preußischen Landtag die Liberalen aller Schattierungen dahin streben, daß 
ihnen die Mehrheit zufällt. Das ist die wesentlich einfach praktische Auf- 
gabe der Liberalen aller Schattierungen, aller liberalen Fraktionen 
für die nächsten Jahre, speziell aber für diesen Herbst. Und der Erfolg ist 
auch durchaus nicht unmöglich, wenn die Liberalen ihre Schuldigkeit tun, 
wenn sie sich nicht gegenseitig unnötig bekämpfen, durch Eifersucht die eine 
Fraktion zurücktreiben! Was geschehen muß, kann nur durch den natür- 
lichen Zustand der Parteien, durch entscheidende Stellung der gesamten Li- 
beralen geschehen.“ Hänel, der Führer des gemäßigten Flügels der Fort- 
schrittspartei, nimmt in seinem Organ, der „Kieler Ztg , die letztere Auf- 
forderung oder doch Andeutung auf, indem er sagt: „Die Rede des Herrn 
v. Bennigsen ist eine sehr bedeutsame Kundgebung. Wir begrüßen sie mit 
um so größerer Genugtuung, als eine Annäherung an unsern Standpunkt 
darin unverkennbar ist. Zwar hat Herr v. Bennigsen noch immer eine 
große Abneigung gegen Radikalismus und reine Negation, aber für die 
sensive muß er sie jetzt selbst akzeptieren. Der hannoversche Parteiführer 
gibt sich der Hoffnung hin, daß in Reichstag und Landtag bald eine liberale 
Mehrheit wieder gewonnen werden wird. Offener als jemals hat auch 
Herr v. Bennigsen diesmal diese Eventualilät erörtert und anscheinend ge- 
rade mit Rücksicht auf diese vielleicht nicht ferne Möglichkeit sein Programm 
entwickelt, welches mehr ist als das Programm einer in der Auflösung be- 
griffenen Fraktion, deren Vergangenheit man noch so schätzen kann, die heute 
aber die Rolle einer leitenden Partei nicht mehr hat. Eine liberale Re- 
gierung in Deutschland wird nur Bestand haben, wenn sie mit Ruhe und 
Sicherheit ihren Weg wohlerwogener Reform zu gehen versteht, und sich 
vor großen Experimenten und Beuuruhigungen hütet." 
11. Juni. (Deutsches Reich.) In Berlin findet wieder 
einmal eine größere sozial-demokratische Demonstration statt. 
12 — 15. Juni. (Deutsches Reich.) Reichstag: Debatte 
über das Tabakmonopol. Der Reichskanzler ergreift dreimal das 
Wort. Rede Bennigsens. Das Tabakmonopol wird mit 276 gegen 
bloß 43 Stimmen abgelehnt und dem Beschluß eine von Bennigsen 
modifizierte Resolution gegen eine Erhöhung der bestehenden Tabak- 
steuer beigefügt, jedoch nur mit 155 gegen 150 Stimmen, da das 
Zentrum für einen etwas veränderten Antrag Windthorst hat stim- 
men wollen, der ihm für die Zukunft freie Hand für oder gegen 
den Reichskanzler gelassen hätte, der aber nunmehr nicht mehr zur 
Abstimmung gelangt. 
Die bedeutendsten Reden der großen Debatte sind die erste Rede des 
Reichskanzlers [die beiden andern sind vorwiegend polemisch, die zweite gegen 
den Abg. Richter (Fortschr.), die dritte gegen den Abg. Bamberger (Soz.)] 
und die Rede v. Bennigsen's (nach der Ablehnung des Monopols und ge- 
legentlich der derselben beizufügenden Resolution), da beide die Steuerreform- 
frage in ihrem ganzen Umfange, einschließlich der soz. Sozialgesetzfrage, be- 
handeln. Die Rede v. Bennigsen's ist eine förmliche Programmrede gegen 
die „überstürzenden“ Tondenzen des Reichskanzlers. 
Erste Rede des Reichskanzlers vom 12. Juni (nach den stenogr. 
Verhandlungen): Wir sind nie darüber in Zweifel gewesen, daß das Mo-
	        
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